Wie ein kleines Kind am heiligen Abend, das gerade sein Geschenk ausgepackt hatte, saß ich da und schielte mit wässrigen Augen die glatte, glänzende Metallplatte an. Mein Mund verzog sich zu einem zittrigen Lächeln, entweder aus Freude über das bevorstehende Geschehen oder aus Verzweiflung und Selbstmitleid. Wohl eher zweites.
Langsam tänzelte die Klinge über mein Handgelenk, wie eine Walzertänzerin unter der Führung ihres Partners, in dem Fall, meiner Hand. Ich beobachtete fasziniert wie im Sekundentakt immer mehr dunkelrote Tropfen aus meiner Haut quollen und sich nach und nach ihren Weg auf den Zimmerboden bahnten. Die Schnitte waren nicht sehr tief, denn in den letzten Tagen haben sich die bösen Gedanken sehr zurückgehalten. Trotzdem wurde der Wunsch nach der Klinge einfach zu groß, um ihn zurückzuhalten.
Ich schloss die Augen und ließ mich zurückfallen. Dieses Gefühl. Genau dieses Gefühl, das mich damals in den Bann der Selbstverletzung gezogen hatte, war nun wiedergekehrt. Erleichterung, Entlastung, als würde jemand den Stein von meinen Schultern nehmen, der mich jetzt schon viel zu lange am Atmen gehindert hatte.
Leise sog ich die kühle Luft ein und verharrte einige Minuten. Als ich mich wieder aufrichtete war das Blut auf meinem Boden bereits getrocknet und aus den frischen Wunden trat kein Blut mehr aus.Auf meinem linken Unterarm konnte man noch deutlich Spuren der letzten Male entdecken. Die meisten der winzigen Schnitte waren bereits weißlich bis gar nicht mehr sichtbar, aber die riesigen drei Risse, die sich vertikal über meinen kompletten Unterarm schlängelten, waren noch ziemlich rot und drohten schon fast wieder aufzuplatzen.
Ein halbes Jahr war es fast her, dass sie den Weg auf meinen Körper gefunden haben. Drei Schnitte. Jeder Schnitt steht für ein Wort. „Bring. Dich. Um." Diese schmutzigen Worte spuckte mir damals Nikolas, ein Junge aus meiner Klasse, ins Gesicht, als er nach dem Sportunterricht einen Blick auf die Narben auf meinen Armen erhascht hatte. Dieser Satz hat mich wohl ziemlich mitgenommen, deswegen sind diese drei Linien auch die tiefsten und längsten.
Unwissendes Arschloch, dieser Nikolas. Es gibt einen ungemein großen Unterschied zwischen Menschen mit Todeswunsch und Menschen wie mir. Ich denke, mein Leben weiß selbst, wann es enden soll und in diese Angelegenheit möchte ich mich beim besten Willen nicht einmischen. Klingt das merkwürdig? Wahrscheinlich schon. Aber dass ich einen Knacks weg habe, sollte man schon gemerkt haben.
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Gedanken auf dem Scheiterhaufen
Подростковая литература"Täuschungen. Täuschungen sind unmoralisch, falsch und verkehrt. Noch dazu sollte man sie auf keinen Fall herausfordern oder gar darauf hoffen, mit einer konfrontiert zu werden. Und trotzdem passiert es mir tagtäglich, dass ich mit diesen Fieslinge...