Kapitel 1

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Es begann schleichend, etwa so wie die Windstille vor einem tosenden Sturm. Erst war alles ruhig, dann tröpfelte Nieselregen auf unsere Köpfe hinab und schließlich zog ein alles vernichtender Platzregen übers Land, der Schirme aus den Händen und Kapuzen von unseren Köpfen riss.

Genau so trug es sich mit meinen Gefühlen zu. Ich fragte mich, wieso ich sie plötzlich länger als sonst ansah, wieso ich das Bedürfnis verspürte sie am Abend vorm Schlafengehen noch einmal anzurufen, obwohl wir uns am nächsten Morgen in der Schule wiedersehen würden. Wieso ich über ihre Witze lachte, die teilweise eigentlich nicht lustig waren. Wieso ich mich zum ersten mal seit meiner Einschulung vor einigen Jahren (wo meine Schultüte prall gefüllt mit Süßigkeiten die Motivation hervorrief) wieder auf den Schulbeginn nach zwei Wochen Ferien freute.

Und dann, als ich mit meinem Fahrrad um die Ecke bog, vor dem alten Sandsteingemäuer zum Stehen kam und sie dort stehen sah mit den anderen Mädchen aus meiner Klasse, fegte plötzlich dieser Sturm über mich hinweg, zog mich mit sich zu völlig neuen Ufern - im wahrsten Sinne des Wortes - und weg von all dem Gewohnten.

Ich war nicht der Typ um Neues auszuprobieren. Ich liebte Abende, die ich allein oder in ihrer Gesellschaft auf der Couch mit Popcorn, Chips und zu viel Schokolade vor dem Fernseher verbrachte. Ich hatte Netflix seit einer Ewigkeit durch und musste täglich auf neue Updates hoffen. Ich wählte im Sportunterricht Volleyball aus statt Badminton oder Paartanz, weil wir das die letzten Jahre sowieso gefühlt alle drei Wochen einmal routiniert zum Aufwärmen spielten. Ich war noch immer sauer auf meine Mutter, dass sie anstatt mit mir in Urlaub zu fahren, mich den kommenden Sommer mit einer Horde wild gewordener, fremder Teenager in den Süden schickte. Ich freute mich nicht auf neue Mitschüler weil ich diese dann erst einmal mühselig einschätzen und sie mir bei meinem nächsten Referat erst einmal in Unterhosen vorstellen musste. Ich mochte es nicht, wenn meine beste Freundin mich zu anderen Mädchen schleifte. Ich kam mir dann immer vor wie ein humorreduziertes Ersatzrad, das eben dabei war, aber keiner so wirklich brauchte und sein Dasein im dunklen Kofferraum fristete, bis ein Notfall eintrat (was in meinem Fall sowieso nie passieren würde).

Seit diesem Tag allerdings wusste ich, dass nicht nur das der Grund war, warum ich mit ihr allein Zeit verbringen wollte. Neben all ihren Vorzügen addierte sich nun ein weiterer zu der Liste.
Sie ist nicht klischeehaft das komplette Gegenteil zu mir. Wir sind quasi miteinander befreundet, um gemeinsam unauffällig zu sein und so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, wenn wir durch die Flure laufen. Wir sind befreundet, damit wir Partnerarbeiten im Unterricht zusammen erledigen können anstatt ausgelost zu werden. Wir sind befreundet weil ich gut in Deutsch und Englisch bin, sie dafür mehr in Mathe und Naturwissenschaften. Bei Geschichte sitzen wir dann beide wie zwei Affen da, die stumpfsinnig ein Becken aneinander schlagen. Wir gehen beide gerne ins Kino und niemals in Clubs, wir gehen auf keine Konzerte weil es uns dort zu voll von Menschen ist und wir sowieso zu faul sind um eine bestimmte Band zu stalken. Wir hassen die selben Frauen und wohl gemerkt Jungen in unserer Klasse und geben ihnen heimlich Namen, die wahrscheinlich kein normaler Mensch jemals mit ihnen in Verbindung bringen würde. Wir sprachen, wenn ein süßer Junge das Thema war, immer von sie und ihr, damit niemand verdacht schöpfte. Und für lesbisch hielt uns sowieso noch keiner. Ebenso wie wir unter uns beiden all unsere Lehrer bei ihren altmodischen Vornamen nannten.
Jedoch war sie hübsch, auch wenn ich mir bis dato nie wirklich Gedanken darüber machte, und ich war mehr diejenige, die den Durchschnitt ausgeglichen hielt. Wir flechteten uns ab und an gegenseitig die Haare und nannten einander scherzhaft dick, wenn wir an unseren traditionellen Freitagsausflügen zu unserem liebsten Schnellimbiss einen Royal TS zu viel verputzt hatten. Aber nie wirklich achtete ich darauf, wie ihre Wimperntusche ihre Augen betonten, die ohnehin schon hervor stachen, oder wie gerade ihre Beine waren und wie perfekt geschwungen ihre Nase war. Ich dachte mir nichts dabei wenn wir zusammen in ihrem Bett schliefen weil sich keine von uns dazu opfern wollte auf der Luftmatratze zu liegen. Ich empfand es vorher mehr störend als niedlich wenn sie nachts leise schnarchte und am Morgen beim Aufwachen schmatzte. Ich konnte es vorher nie verstehen wie sie katholisch erzogen aufgewachsen war und wie sie noch immer jeden Sonntag in die Kirche ging, doch jetzt sah ich es als bemerkenswert an, so stark an etwas glauben und Kraft daraus schöpfen zu können.

Doch all das war bevor es plötzlich windstill wurde. Bevor meine Gefühle ohne jegliche Vorwarnung umschwenkten und wie kleine Hagelkörner in Form von Messern auf mich einstachen. Denn ich wusste, wir konnten nie wieder so befreundet sein wie wir es noch einen Tag zuvor waren.

Blooming Rose | ➳ GirlxGirl / LGBTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt