Kapitel 5

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Keiner von uns beiden rührte sich, niemand gab auch nur einen Mucks von sich. Zu groß war die Gefahr, diesen Moment zu zerstören, den magischen Bann zwischen uns zu brechen. Auf der einen Seite, die Seite, die stärker war, fühlte ich mich unendlich leicht und befreit, ungefähr wie in dem Moment wenn man mit rasanter Geschwindigkeit über einen Achterbahnhügel bretterte. Die Seite, die mir innerhalb weniger Sekunden all die schönen Momente, die uns ab jetzt gehören könnten, vor meinem inneren Auge aufzeigte. Die Seite, die mir versprach, das Gefühl von Laurens Lippen auf meinen niemals vergessen zu werden.

Aber dann gab es die andere Seite. Die, die mir sagte, dieser Kuss sei nur das Ergebnis eines Hormonüberschusses. Die Generalprobe vor ihrem ersten richtigen Kuss mit irgendeinem fremden Jungen, der sie verletzen könnte. Ein Test, ob ich irgendetwas für sie empfand, das mehr als nur Freundschaft war. Die Seite, die mir sagte, ich sei gerade eben in eine tödliche Falle getappt. Lauren war nun einmal ein Mädchen, das man nicht einschätzen konnte. Ein Mädchen, das dir das blaue vom Himmel lügen konnte, und du würdest ihr jedes einzelne Wort glauben, weil du an ihren Lippen hängst. Das einzige, was mir blieb, war den Moment zu genießen und auf das Beste zu hoffen.

"Du hast recht", durchbrach ich die Stille, "ich bin deine beste Freundin und ich liebe dich." Ich bestätigte sie in dem, was sie sagte, ließ dabei gekonnt den letzten Punkt aus.

"Du wolltest mich also nicht auf meinen ersten richtigen Kuss vorbereiten?", grinste sie mich frech an, während ich mich wieder neben ihr auf den Rücken legte und an die Decke starrte. Es fühlte sich an als läge ich auf einer Wolke aus knallpinker Zuckerwatte direkt neben einem Engel.

"Meiner Meinung nach war das, was wir gerade getan haben, ein richtiger Kuss", gab ich ehrlich zu. Es war mir sogar egal, was sie nun von mir dachte. Mir lag es fern, diesen Moment zu zerreden, als nichtig abzutun.

"Oh, dann schätze ich, habe ich wohl gerade den Moment erlebt, nach dem mich später einmal noch meine Kinder fragen werden. Danke, Sam."

War das nun gut oder schlecht? Ich konnte es selbst noch nicht ganz fassen, gerade meinen ersten Kuss erlebt zu haben. Mit siebzehn. Mit einem Mädchen, das noch dazu meine beste Freundin war. War. Mir wurde  ebenfalls klar, dass sich nun alles ändern würde. Oder? Was, wenn nicht? Was, wenn Lauren so weiter machte wie bisher? Wenn es für sie nichts besonderes war, dass wir uns nach jahrelanger Freundschaft küssten wie ein Liebespaar? Dass wir zusammen bereits viele Erste Male erlebten, doch nie etwas so intimes, das normalerweise nur Verliebten vergönnt war? 

"Du bedankst dich?", fragte ich sie. Ich brauchte Klarheit, hatte gleichzeitig jedoch Angst, mir von ihr alle Hoffnungen zerstören zu lassen. 

"Klar, es war wenigstens schön. Wer weiß, vielleicht hätte es sich mit Dawson angefühlt wie ohne Auto in eine Waschanlage zu gehen", lachte sie. "Außerdem kann ich meinen Kindern später einmal einen guten Rat geben, indem ich ihnen sage, sie sollen ihren ersten Kuss an niemanden verschwenden, der es nicht wert ist."

Ich freute mich über den ersten Teil ihrer Antwort, der zweite riss mir daraufhin den Boden unter den Füßen weg. Das war also der Grund. Sie wollte sich nur sicher sein, sich diesen Moment nicht durch irgendeinen unfähigen Mann kaputt machen zu lassen. Ich ging aufs Ganze.

"Wenn du weiterhin Frauen küsst, wird das mit eigenen Kindern aber wohl nichts."

Schockiert sah sie mich an und ich fragte mich ob es ernst oder gespielt war, wie bei so vielem was sie betraf. "Du hältst mich für lesbisch?"

"Was ist schon lesbisch? Ich sage zu diesem Thema nur eines; nämlich dass ich dich nicht für ein Mädchen halte, das andere in Schubladen steckt."

"Richtig", stimmte sie mir zu. "Ich liebe dich als meine beste Freundin und küsse dich weil ich es kann und will, und nicht weil irgendjemand von uns lesbisch ist."

Irgendetwas konnte ich ihrer Aussage abgewinnen. Ich mochte es nicht, dass man auf diversen Internetplattformen sein bevorzugtes Geschlecht angeben konnte. Dass bei Gaypride-Flaggen unterschieden wurde zwischen Bisexuellen, Schwulen, Transgender und so weiter. Wieso sollte man sich ein Label aufdrücken lassen? Wieso konnte man sich nicht einfach verlieben, wieso machte man es sich so schwer? Vielleicht liebte man heute eine Frau und morgen einen Mann. Man verliebte sich schließlich in einen Menschen, in ein Herz, nicht in Arsch, Brüste oder Penis. Ich liebte Lauren, weil sie ständig an meiner Seite war, weil ich so viel mit ihr erlebt hatte, weil sie all meine Ansprüche erfüllte und übertraf, weil sie ein gutes Herz und eine reine Seele hatte, und nicht weil ich lesbisch und sie ein Mädchen war. Ich war froh, dass sie es auch so sah, befürchtete jedoch, dass sie das verallgemeinerte. Dass sie Angst hatte, hinterher zu hinken, während all die anderen Mädchen aus unserer Klasse bereits Beziehungen und Sex hatten. Vielleicht war ich Mittel zum Zweck, denn man sagte nicht umsonst dass eine Frau plötzlich mehr Typen anhimmelten wenn sie glücklich mit jemand anderem war. Vielleicht änderte sich ihre Ausstrahlung wenn sie merkte was ich für sie empfand, vielleicht steigerte ich ihr Selbstbewusstsein und wäre selbst dafür verantwortlich, wenn sie sich vor Verehrern plötzlich nicht mehr retten konnte. Vielleicht rannte ich selbst in mein Verderben.

"Außerdem", fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, "weißt du genau, was meine Eltern darüber denken würden."

"Sie würden wahrscheinlich sofort das Telefonbuch aufschlagen und nach einem Exorzisten suchen."

Wir beide stimmten ein Lachen ein, jedoch bedrückte mich diese Tatsache bereits seit ich das erste Kribbeln in ihrer Gegenwart verspürte. Ich konnte bisher nie wirklich das betrunkene Gefühl von Glückseligkeit auskosten, mich dieser Veränderung beugen, ganz hingeben. Denn immer schwang dieser bittere Beigeschmack mit. Die Tatsache, dass wir uns nie ganz öffnen könnten, niemals auf der Straße Händchen halten könnten, außer mit der Angst im Hinterkopf, diese Information könnte an die falschen Leute geraten. Die Leute, die eigentlich immer hinter ihr stehen sollten. Ihre eigenen Eltern. Aber für diesen einen Moment vergaß ich alles, vergaß ich die Sorgen, die Zweifel, die Fragen über die Zukunft unserer Freundschaft, lag einfach neben ihr und atmete die kühle Luft dieser kalten Winternacht ein.

  • • •  

Tränen liefen über mein brennendes Gesicht als ich in die Dunkelheit der Nacht blickte. Die Sternen boten mir noch immer das selbe Bild wie in jener Nacht, als wir uns das erste mal küssten. Nicht viel Zeit war vergangen, nein. Viel zu wenig. Ich brauchte viel mehr Zeit mit ihr, viel mehr Zeit ihr Liebe zu schenken. Zu groß war der Hass, den man ihr entgegen brachte, und seit dieser Nacht sie auch mir.

Blooming Rose | ➳ GirlxGirl / LGBTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt