Kapitel 2

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Noch immer wusste ich, wie ich mich an diesem Morgen fühlte, als die Eiseskälte mir ins Gesicht peitschte und ich mich trotz alledem warm fühlte. Wie ich kurz zusammenzuckte als ihr Blick mich fand, so wie er es schon unzählige male zuvor tat. Ich hoffte inständig, dass meine Veränderung von ihr unbemerkt blieb, auch wenn es so schien als wenn ein gefühlt zwei Meter großes Schild auf meiner Stirn klebte, welches mit roten Leuchtbuchstaben verkündete, dass sich irgendetwas in mir drin ganz gewaltig veränderte. Mit jeder einzelnen Sekunde. Und vermutlich würde sich das nicht einmal ändern, wenn ich mich umdrehte und diese Schule nie wieder besuchte.

"Hey, Sam!", begrüßte sie mich. Sie war einer der wenigen Menschen die mich sofort und ohne nachfragen bei meinem Spitznamen ansprachen. Mit ihr war einfach alles so leicht, wir stritten nie und vielleicht war es das, was das Ganze jetzt umso verzwickter gestaltete. Das Wissen, dass ab jetzt nichts mehr wie vorher sein könnte.

Wir umarmten uns zur Begrüßung - wie jeden Tag. Wir besuchten gemeinsam unsere Unterrichtsstunden und saßen bei jeder einzelnen nebeneinander - wie jeden Tag. Wir quetschten uns in der Mittagspause gemeinsam in die kleine Nische beim Fenster - wie jeden Tag. Sie aß mein Erdnussbuttersandwich und ich ihren Himbeerkonfitüretoast - wie jeden Tag.
Ich sah sie verstohlen von der Seite an, rückte näher zu ihr, bis sich unsere Schenkel berührten, hoffte, dass sie nichts davon für meine Absicht hielt - wie, ab sofort, jeden Tag.

Die erste Woche in der wir so nebeneinander her lebten wie die ganze Zeit über schon, brachte ich zum Glück ohne besondere Vorkommnisse hinter mich. Am fünften Tag meines nicht enden wollenden Elends jedoch eröffnete sie mir dann, dass sie mir am Abend etwas sagen wollte. Ich versuchte bereits seit Montag, mir irgendeine Ausrede aus dem Ärmel zu schütteln, was sich leider schwieriger als gedacht gestaltete. Ich hatte keine verschollene Tante, die zu Besuch käme oder einen Goldfisch, der sterben könnte. Ebenso wenig hatte ich keine Freunde, auf deren Geburtstag ich eingeladen sein könnte. Also gab ich mich meinem Schicksal hin und klingelte am Abend an ihre Tür.

Ein hoch gewachsener, mittelblonder Junge öffnete mir die Tür. Ich blickte in sein Gesicht etwa auf die Höhe auf der normalerweise ein Basketballkorb hing.

"Oh, Samantha. Meine verschollene Schwester", scherzte er. Oh je. War es zu offensichtlich, wie oft ich meine beste Freundin besuchen kam? Sollten wir uns seltener treffen? Unsinn, redete ich mir ein. Der Kapitän der Handballmannschaft im Ort hatte mit Sicherheit besseres zu tun als über das nicht vorhandene Liebesleben seiner Schwester mit deren Freundin zu spekulieren.

"Hey, Dylan", grüßte ich ihn und gab ihm eine Kopfnuss, um die Situation zu entschärfen. Er war knapp zwei Jahre älter als sie und studierte irgendetwas Trockenes auf der Universität, half nebenbei zweimal die Woche auf unserer Schule den Kindern bei den Hausaufgaben.

"Lauren ist in der Küche und kocht mit Mutter." Bei ihrem Namen zuckte ich erneut zusammen. Nicht einmal bei ihm, wenn sie nicht in der Nähe war, hatte ich mich im Griff.

Sie stand neben ihrer Mutter, welche Anfang vierzig immer noch aussah wie Ende zwanzig und eigentlich immer ein Lächeln auf den Lippen trug, vor der Arbeitsplatte und pinselte zwei Hähnchen mit einer Marinade ein.

"Samantha, meine verschollene Tochter", begrüßte Laurens Mutter Judy mich mit den gleichen Worten wie zuvor ihr Sohn. Wir lachten über diese Tatsache und schäkerten darüber, dass Lauren bei ihrem letzten Kochversuch mit brennendem Öl in der Bratpfanne beinahe die ganze Küche in Brand gesteckt hatte. Ich, trotz meiner gespielten Unbeschwertheit, konnte nur daran denken, was sie mir wohl zu berichten hatte. Ich hasste es, wie sie mich immer auf die Folter spannte, wenn es bei ihr irgendetwas Neues gab, und dass ich dazu nie wirklich in der Lage war, da mein Leben schlicht und einfach langweilig war und nichts spannendes passierte außer vielleicht dass wir letztes Jahr zu Weihnachten mal wieder einen echten Baum und nicht dieses verstaubte Plastikding aus dem Keller schmückten.

Als sie endlich das ganze Hühnchen mit einer Mischung aus Öl und diversen Gewürzen beschmiert hatte, entließ uns Judy in der Hoffnung dass Lauren nicht wieder den selben Mist baute wie beim letzten mal. Eilig hasteten wir die Stufen hoch in ihr Zimmer, wo wir uns gegenüber im Schneidersitz in ihr Bett setzten. Beim Gedanken daran, dass wir diese Nacht wieder zusammen hier liegen würden und ich ihr Haar riechen konnte, wurde mir ganz mulmig in der Magengegend. Natürlich konnte ich es kaum abwarten, jedoch fühlte es sich mit jedem Atemzug so an als verschluckte mich dieser Strudel ein Stückchen mehr und machte es mir unmöglich zu entkommen. Zum Anderen fühlte es sich falsch ihr gegenüber an, so über sie zu denken ohne dass sie es wusste.

"Also, was wolltest du mir erzählen?"

Sie grinste mich erwartungsvoll an, wollte wahrscheinlich, dass ich ratete. Du hast herausgefunden, dass ich auf dich stehe?, wäre wahrscheinlich nicht die richtige Antwort gewesen und sollte ich mir besser verkneifen.

"Du hast eine Eins im Kunstprojekt bekommen?", tippte ich einfach ins Schwarze.

"Unsinn", lachte sie, "bei mir dreht sich doch nicht alles nur um die Schule. Zudem weißt du, was passiert, wenn man mich mit Pappmaschee allein lässt. Zumindest seit ich das erste mal Art Attack geschaut habe und herausgefunden habe, wo es diesen weißen Bastelkleber gibt."

Jetzt stimmte auch ich mit ein. Ich erinnerte mich noch daran, wie wir vor viel zu vielen Jahren den örtlichen Basel- und Heimwerkerladen nach diesem sagenumwobenen Kleber durchforstet haben.

"Raus damit", forderte ich, brachte sie damit wieder dazu, wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen. 

"Dawson war gestern Abend hier und er hatte mich zum Abschied umarmt, stell dir vor!"

Ihr Quietschen betäubte meine Ohren und ihre Worte betäubten mein Herz.

"Wow, wann ist die Hochzeit?", scherzte ich trocken.

"Hey, freu dich doch mit mir! Immerhin sind wir einen Schritt weiter gegangen und wer weiß, vielleicht bekomme ich beim nächsten mal ja einen Kuss?" Verträumt ließ sie sich zurück auf ihr Bett fallen, sah an die Decke. Zum Glück, denn so konnte ich meine Miene etwas vor ihr verstecken.

"Meinst du nicht, er ist zu alt für dich?"

"Quatsch, er ist so alt wie mein Bruder. Außerdem stehst du doch auch ein bisschen auf Dylan, wenn du es zu gibst."

"Bäh!", schrie ich etwas zu laut. Dass ich auf ihren Bruder abfuhr würde mir im Traum nie einfallen. Wer aber hätte gedacht, dass ich jemals auf ein Mädchen, doch dazu auf Lauren, stand? Sie hatte wohl einfach dieses Lauren-Phänomen an sich. Diese Art, unsichtbar zu sein und trotzdem alle Blicke auf sich zu ziehen. Zumindest die Blicke, von den Leuten, die es wert waren. Dawson zählte garantiert nicht dazu. Ich sah ihn ein paar mal wenn er hier war um Dylan zu besuchen, da sie beide in der selben Mannschaft waren und hier ihre Taktiken durchgingen oder uns beide einfach ärgerten. Dabei kam er mir mehr ebenfalls wie ein größerer Bruder von Lauren vor und weniger wie jemand, der einmal eine Konkurrenz für mich darstellen konnte.

Kennt ihr das, wenn ihr euch im Kino nachdem ihr eine Menge salziger Nachos gegessen habt, auf eure XXL-Cola stürzt, einen großen Schluck nehmt und dann erst bemerkt, dass es Pepsi ist?
Genau. Lauren war Coca Cola, ich dagegen eher Pepsi.

Blooming Rose | ➳ GirlxGirl / LGBTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt