Kapitel 4

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Noch jegliche Details des Films aufzunehmen gestaltete sich nach ihrer Frage, ob ich sie küssen wolle, mehr als schwierig. Ich war sowieso nicht in Stimmung für einen Liebesfilm, schon gar nicht für einen in dem Amanda Seyfried mitspielte. Nach dem ewigen Getreller in Mamma Mia hatte sie keine Chance mehr bei mir auf Anklang zu stoßen. Ohnehin war Lauren momentan die einzige Frau, für die ich Augen hatte. Nach meinem gestammelten "Nein" sprachen wir kein Wort mehr miteinander. Ich hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, auch wenn ich nicht wusste, was. Was ich aber wusste, war, dass ich die Stille zwischen uns hasste. Es war jedes mal so. Immer, wenn wir wegen irgendetwas diskutierten, sei es über Pläne am Wochenende oder wer welches Poster aus der Bravo behalten durfte, war sie diejenige, die auf ihrem Recht pochte und so lange nicht mit mir sprach, bis ich nach gab. Ich hasste diese Eigenschaft an ihr aber vermutlich war es genau diese Dominanz, die mich so anzog. Sie war alles andere als langweilig, auch wenn Außenstehende das wohl eher nicht so sahen. Sie gab mir kontra, womit ich nicht wirklich umgehen konnte, da ich als Kind immer als Prinzessin behandelt wurde und alles bekam wonach ich verlangte. Aber genau das war es, was mich so reizte. Keine Ahnung, was ausschlaggebend für meine plötzlichen Gefühle für sie war, aber sie fühlten sich heftig an und wurden immer stärker, egal, was sie oder ich taten.

"Warum hast du gefragt, ob das mit Dawson in Ordnung für mich ist?", fragte ich sie nachdem ich all meinen Mut zusammen nahm.

"Weil du bisher meine einzige Bezugsperson warst - und ich deine."

"Bisher?", quietschte ich etwas zu traurig als es klingen sollte.

"Ach, ich weiß es ja auch nicht. Ich hab mich irgendwie verguckt, aber du weißt ja, wie oft mir das passiert." In der Tat habe ich sie die letzten Jahre über einige Jungen hinweg trösten müssen. Einige kannten nicht einmal ihren Namen, andere waren Stars, und wieder andere waren eine Produktion ihrer blühenden Fantasie. Sie war eine Träumerin, träumte schon immer vom Prinzen auf seinem Schimmel. Ich wusste, dass ich nun mal kein Prinz sondern eine Prinzessin war. Aber wieso spielte es eine Rolle, welches Geschlecht man hatte? Wieso zählte nicht einfach der Mensch?

"Wenn du mit ihm zusammen kommst ist das in Ordnung", gab ich nach einer ganzen Weile, in der ich mit mir selbst rang, zu. Der Film war mittlerweile endlich zu Ende und wir machten uns auf den Weg in ihr Zimmer. Die Stimmung, wenn wir beide allein in einem geschlossenen Raum und abgeschnitten von der Außenwelt waren änderte sich innerhalb der letzten Tage abrupt. Man konnte meine Anspannung scheinbar greifen, mein Herzrasen hören und mein Zittern sehen. Natürlich war es überhaupt nicht in Ordnung, wenn sie mit ihm zusammen käme. Ich bezweifelte dass er sie gut behandeln würde, auch wenn mir ihr Glück am wichtigsten war. Trotzdem könnte ich es nicht einfach so hinnehmen, mich damit abfinden. So egoistisch war ich leider doch.

"Es sagt ja keiner, dass wir zusammen kommen", entgegnete sie schließlich, als sie zu mir unter ihre Bettdecke schlüpfte. Ihre Füße erreichten meine Schienbeine. Sie waren klein und kalt, aber selbst dieses Ritual liebte ich mittlerweile.

"Naja, du redest quasi so, als würdet ihr morgen schon vor den Altar treten", scherzte ich mehr beiläufig als es eigentlich war. Natürlich wollte ich meine Sorgen von ihr ausgeredet bekommen.

"Wenn es nach meinen Eltern ginge bestimmt", gab sie traurig zu.

"Wieso?"

"Sie kennen seine Eltern und bevor ich nicht verheiratet bin wird sowieso nichts zwischen uns laufen."

Ich konnte kaum fassen, wie sie redete. Dass sie mal wieder an Sex dachte. Sie war gerade mal siebzehn Jahre alt und dachte an solche Dinge als einfach ihr Leben zu leben. Ich konnte einer strengen Religion beziehungsweise einem strikten Glauben an einen Gott noch nie etwas abgewinnen. Klar war es schön wenn man sich in schweren Zeiten nicht allein fühlen musste, aber wer wollte sein Leben derart einschränken? Wer wollte denn noch nie einmal sonntags einfach liegen bleiben anstatt jedes mal in die Kirche zu gehen? Wer war denn nicht mal zu faul ein Tischgebet vor jedem Essen aufzusagen? Wer hatte denn noch nie Angst, wegen irgendetwas schlechtem, das man tat, bestraft zu werden oder in die sogenannte Hölle zu kommen? Wer wollte denn bitte bis zur Ehe warten, um mit jemandem intim zu werden? Lauren wollte das bestimmt nicht, so wie sie immer redete. Und doch gehorchte sie stets ihren Eltern. Wenn es nach ihnen ginge, sollte sie mich auch nicht küssen, und doch fragte sie mich danach.

"Heißt das, du willst mit ihm schlafen?"

Ihr Lachen war so laut, dass ich Angst hatte, ihre Eltern könnten aufwachen. Wir blieben jedes Wochenende an dem wir gemeinsam übernachteten bis in die frühen Morgenstunden wach und unterhielten uns bis es hell wurde. "Oh Sam, was machst du mit mir", kicherte sie. "Ich hab ihn ja noch nicht einmal geküsst. Man sollte erstmal laufen lernen bevor man rennt. Aber Sex gehört dazu."

"Woher willst du das wissen?"

"Verrate ich nicht." Ihre geheimnisvolle Art machte mich nicht zum ersten mal wahnsinnig und sie wusste das, denn sie spielte diese Karte nur zu gerne gegen mich aus. Sie wusste dass ich jetzt grübelte ob sie mit jemandem geschlafen hatte und wenn ja, mit wem. Unsere Freundschaft lebte von Geheimnissen wie eine Rose durch Regenwasser blühte. Das mag vielleicht nach einer ziemlich einseitigen Freundschaft klingen, aber es war wie das Salz in der Suppe. Lauren war ein Mädchen das stets sagte, was sie dachte. Sie machte kein Geheimnis daraus wenn sie etwas nicht wollte und war diejenige, die unsere Freundschaft führte. Und genau so etwas brauchte ich. Wir ergänzten uns perfekt und waren uns in entscheidenden Dingen sehr ähnlich. Wer brauchte da schon eine Beziehung?

"Dann hoffe ich mal, dass du ihn mit deinem Sex- und Küss-Talent aus den Socken haust", scherzte ich in ernster Stimmlage, da mir die Sache schon ziemlich am Herzen lag und ich immer noch hoffte dass sie diese Blase aus Verlustängsten zerschlug wie eine bunte Piñata. 

"Bestimmt nicht, du wolltest mich ja nicht küssen."

Wieder dieses Thema. Wieder wusste ich nicht, wie ich antworten sollte. Außer eventuell mit einem Kuss, aber sie würde mich sowieso zurück stoßen und auslachen. Vermutlich war es ein weiterer Test von ihr, so wie damals als sie sagte sie fürchtete sich vor dem Drei Meter Turm und ich solle zuerst springen. Nur dass meine Höhenangst nichts im Vergleich zu der Angst war, sie zu verlieren.

"Wieso sollte ich das tun?", brachte ich endlich ohne Stottern heraus, sah sie durch die Dunkelheit hinweg an.

"Weil du meine beste Freundin bist, mich auf meinen ersten richtigen Kuss vorbereiten willst und weil du mich natürlich liebst?", fragte sie als ob es selbst verständlich sei. Ich liebte sie immer, klar, aber seit ein paar Tagen mehr als das. Ich liebte sie wirklich, so echt und dieses Gefühl ließ alles andere vorher im Verborgenen verschwinden. Dieses Gefühl veränderte mich mehr, als ich zunächst annahm. Es ließ mich meine Sehnsüchte überwinden, ließ mich all meinen Mut zusammen nehmen, sodass ich mich auf meinen Ellbogen stütze, mich über sie beugte und küsste.

In diesem Moment flogen all die Schmetterlinge, die in den letzten Tagen fleißig in ihren Kokons heranwuchsen, wild umher, ließen mich wie auf einer Achterbahnfahrt fühlen. Endlich durfte ich erfahren, wie weich sich ihre Lippen tatsächlich anfühlten, welches Geräusch es machte als sich unsere Zungen das erste mal begegneten, wie gut sie roch und wie perfekt ihr Kopf in meine Handfläche passte. Unsere Freundschaft war nie perfekt, wir waren zugleich ähnlich und unterschiedlich, wie Yin und Yang, aber dieser Kuss ließ uns zu einem Ganzen heran wachsen. Zu etwas noch Größerem, noch Perfekterem.

  • • •  

Sie rannte uns durch die Finger, die Zeit. Wir versuchten, sie einzufangen, ihr zu entkommen, indem wir schnell lebten, schnell liebten. Aber am Ende waren wir zu schnell am Ziel, auf der Zielgeraden disqualifiziert. Das Glück war uns nicht vergönnt, doch eigentlich war ich glücklich, zumindest für den Bruchteil einer Unendlichkeit, die du mit mir verschwendet hast.

Blooming Rose | ➳ GirlxGirl / LGBTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt