blau - Harmonie

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Es war dunkel. Nur eine flackernde Straßenlaterne schien schwach durch das offene Fenster und ließ vage Umrisse des Zimmers erkennen. Es war klein, überschaubar. Charlie ließ ihren Blick über die Einrichtung schweifen, versuchte herauszufinden, welche Persönlichkeit hier lebte. Ihr Blick blieb auf dem Schreibtisch hängen, der einzigen Unordnung in diesem Raum. Notizzettel mit Zeichnungen, Schulbücher und Poster stapelten sich darauf. Vorsichtig, bedacht darauf, kein Geräusch zu machen, nahm sie eine der Zeichnungen hoch, suchte darin nach einem Hinweis, wer hier wohnte. Ihr Blick wanderte weiter und blieb schließlich an einem fahlen Leuchten hängen, das vom Bett ausging. Nun war es also so weit. Charlie ließ den Zettel sinken und drehte sich zu dem Mädchen um, das im Bett lag. Sie würde nicht aufwachen. Denn gerade in diesem Moment, als das schwache blaue Licht in ihrer Brust aufflammte, begann sie zu träumen.

Charlie fixierte das Leuchten und tastete sich auf Zehenspitzen voran zum Bett. Das Licht flimmerte ihr entgegen, als spürte es ihre Anwesenheit. Als wusste es, dass es in wenigen Augenblicken gerettet würde. Es streckte sich nach ihr aus, doch es war noch zu schwach.

Charlie ging in die Hocke und stützte ihre Arme auf der Bettkante ab. Hypnotisiert von dem Licht, das vor ihren Augen tanzte und immer heller und strahlender wurde. Das wunderschöne Blau nahm all ihre Sinne ein, ließ sie die Geräusche der Nacht überhören, die Umgebung unbedeutend werden. Bald schon erleuchtete die Farbe den gesamten Raum, beinahe so, als befänden sie sich Unterwasser. Lichtstreifen waberten an der Wand, hinterließen ein prächtiges Farbenspiel, je heller das Blau wurde. Doch diese Schönheit barg auch eine tief sitzende Trauer. Ein Gefühl von Furcht und Hilflosigkeit.

Sie wandte ihren Blick ab, schaute das Mädchen an, das von den Träumen gequält wurde. Ihr Gesicht war zart und doch so angespannt. Die Lippen aufeinander gepresst, die Lider flatterten. Charlie fuhr mit den Fingern sanft an ihrem Arm entlang, hinterließ ein elektrisches Pulsieren, ein Kitzeln, das sie beruhigen sollte. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dir helfen«, flüsterte sie, wohl wissend, dass das Kind sie nicht hören konnte. Dennoch merkte sie, dass ihre Berührung dem Mädchen Trost spendete.

Das aufgeregte Licht tanzte langsamer, doch es wurde nicht schwächer. Die Angst, die das blaue Leuchten in dem Mädchen hinterließ, würde nicht einfach gehen. Es wollte sie einnehmen, sodass sie nicht nur im Traum, sondern auch am Tag von Furcht und Kälte geplagt wurde. Je stärker es pulsierte, umso schwerer fiel Charlie das Atmen. Sie spürte die Energie, die von den schlechten Träumen ausging, noch lange bevor die Emotion auf sie überfloss. Sie warf den Kopf von links nach rechts, ihre Zähne knirschten. Charlie spürte dasselbe, was das Mädchen in diesem Moment empfand. Fühlte die Angst, die sie in ihrem Traum plagte. Aber das Licht war noch nicht hell genug, um gerettet zu werden. Noch nicht stark genug, um völlig aus dem Herzen des Mädchens absorbiert zu werden. Schmerzen übermannten Charlie, ein Stechen, das sich durch ihren gesamten Körper zog. Sie unterdrückte einen Aufschrei, ballte ihre Hände zu Fäusten. Die Energie prasselte auf sie ein, als versuche sie, sie zu vernichten. Doch sie musste stark bleiben, denn es war ihre Aufgabe, den Traumsplitter zu retten, der getrieben von Furcht das Leben des Mädchens beeinflussen konnte.

Charlie musste alle Kraft aufwenden, um ihre Finger über die Stelle zu heben, an der ihr das Blau entgegenleuchtete. Sie spürte das elektrische Ziehen der Energie, die sich nach ihr ausstreckte, sie ersehnten. Es war, als riefen die Emotionen nach ihr, um Hilfe, als wollten sie gerettet werden. Ihre Finger zitterten, sie musste darauf achten, das Mädchen nicht zu berühren. Sie würde mit Emotionen überladen, sie würden auf sie zuschießen, wie tausend Pistolenkugeln.

Es lagen noch Zentimeter zwischen ihrer Hand und den Emotionen, dennoch merkte sie, wie diese langsam auf sie überflossen, ohne dass sie es kontrollieren konnte. Blaue Nebelschwaden lösten sich aus dem Licht, schlängelten sich ihren Weg zu Charlies Handfläche hinauf. Es kostete sie enorme Kraft, dem dauernden Druck standzuhalten, die Emotionen nicht zu nah an sich heran zu lassen. Kopfschmerzen bahnten sich an, gleichzeitig breitete sich allerdings eine angenehme Wärme in ihr aus. Ein Gefühl, das ihr half, den Schmerzen standzuhalten, den Traumsplitter zu befreien. Sie näherte sich dem Licht mit ihren Fingern, darauf vorbereitet, dass die Empfindungen jeden Moment in sie hineinströmen können, um ihr jede Kraft zu rauben. Langsam, ehrfürchtig, legte sie ihre Finger auf das immer wilder tanzende Licht.

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