Wie eingefroren stand er da und lieferte sich ein Blickduell mit dem Moos auf dem kleinen Gartentürchen einen halben Meter vor ihm. Und das schon seit drei Minuten. Und je länger er so da stand, vor diesem kleinen Haus, an das er sich in jedem Detail erinnerte, desto sicherer war er sich, dass er nicht hätte herkommen sollen. Er hätte zurück gehen sollen, zum Hotel oder ins Studio, überall hin, nur nicht hier. Doch seine Füße hatten ihn wie von selbst zum Bahnhof getragen und jetzt stand er hier. Warum hatte er sie auch nicht einfach vergessen können? Warum konnte er sich nicht einfach damit abfinden, nein, er musste es wissen. Unbedingt. Immer musste er allem auf den Grund gehen, über alles informiert sein. Eine Eigenschaft, die auch viele seiner Freunde nicht immer guthießen.
Er seufzte, als sein Blick über den schmalen Plattenweg zu der massiven Haustür mit den dicken Glasscheiben wanderte, die er noch genau so im Gedächtnis hatte. Und da waren sie wieder, diese Bilder, die sich erneut unvermeidbar vor seinem inneren Auge abspielten. Er ging den Weg entlang, in Richtung des kleinen Tors. Er hatte die kleine Straße schon fast erreicht, als er sich noch einmal umdrehte und da stand sie, in diesem wunderschönen Kleid und lächelte ihn an. Sie lächelte nur, ein ganz einfaches, gewöhnliches kleines Lächeln und dennoch war es das Schönste, das er je zu Gesicht bekam. Was er nicht wusste, es sollte das letzte mal sein, dass er sie so sah...
Energisch schüttelte er sich, um diese Bilder aus seinem Kopf zu verjagen. Er atmete einmal tief durch, gab sich einen Ruck und griff nach dem verrosteten Türknauf. Das Türchen schwang zur Seite und gab den Weg in den Garten frei. Er schluckte. Wollte er das wirklich? Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er vor der alten Eichentür zum Stehen kam. Jetzt gab es kein zurück mehr. Entschlossen hob er eine Hand und betätigte mit etwas zittrigen Fingern die kleine Klingel neben der Tür und kaum ertönte das altbekannte 'Ding Dong' von drinnen, konnte er auch schon einen dunklen Schatten ausmachen, der sich langsam auf ihn zu bewegte. Sein Herz raste und Schweiß bildete sich auf seinen Handflächen. Jetzt gab es kein zurück mehr. Die Tür schwang auf und eine überraschte Esther Järvi erschien in dem hölzernen Rahmen. Als sie den großen blonden Mann auf ihrer Fußmatte stehen sah, stockte sie abrupt in ihrer Bewegung. Sie konnte einfach nicht glauben wer da, anscheinend mit Haut und Haar vor ihr stand.
„Samu?", fragte sie ungläubig. Niemals, nicht in einer Millionen Jahren hätte sie erwartet diesen Mann hier noch einmal zu sehen. „Ja.", nickte Samu. Er wusste genau, was Esther jetzt denken musste, schließlich konnte er selbst auch nicht ahnen, dass er dieses Grundstück noch einmal betreten würde. Auch Oma Järvi musterte ihn mittlerweile, als stünde ein Geist vor ihr. Und dieser Geist schien erwachsen geworden zu sein, denn das kindische T-Shirt hatte er durch ein Hemd ersetzt und die Camouflage-Cargo-Shorts war ein paar, mehr oder weniger ordentlichen Jeans gewichen. Doch das ließ sie nur noch mehr an seiner Existenz zweifeln. „Was tust du hier?", fragte sie unter einem weiterhin kritischen Blick. Samu schluckte. „Ähm...", er räusperte sich etwas gezwungen, „Kann ich reinkommen?". Moment, er sprach Deutsch? Wenn auch mit einem deutlichen Akzent, er sprach definitiv Deutsch. Dabei erinnerte Esther sich doch noch genau an sein akzentfreieres Englisch. Aber es war unschwer zu erkennen, dass ihm sein Vorhaben, was auch immer es war, wichtig war, so wie er sich bemühte. „Na gut.", meinte sie schließlich und lächelte, als sie ein Stück zur Seite ging und Samu noch immer etwas zögerlich über die Türschwelle trat. Pflichtbewusst streifte er sich die Schuhe von den Füßen und stellte sie ordentlich in das kleine Schuhregal neben der Tür. Immerhin wusste er erfahrungsgemäß, wie ungern Esther die Abdrücke seiner Schuhsohlen im Wohnzimmer hatte, das würde er wohl nie wieder vergessen.
Schmunzelnd ließ sie die Haustür ins Schloss fallen und ging an ihm vorbei, in die kleine Küche. „Willst du etwas trinken?", fragte sie, als sie einen der Hängeschränke mit dem scheußlichen Blumenmuster öffnete, das Samu noch nie hatte leiden können. Zu gerne hätte er jetzt ein Bier oder ein Glas Wein gehabt, doch er wusste ganz genau, dass es so etwas in diesem Haus nicht gab. Nicht aus religiösen Gründen oder dergleichen, nein, es gab schlicht und ergreifend keinen Alkohol. Also antwortete er: „Ja, Wasser bitte.", während er seinen Blick durch den Flur schweifen ließ. Unwillkürlich musste er lächeln, als er eines der Bilder auf dem schmalen Beistelltisch neben dem Telefon entdeckte. Es zeigte Leo Järvi, bei weitem einen der herzlichsten Menschen dieser Welt. Trotz der Tatsache, dass Samu ihn nur kurz gekannt hatte, konnte er sein ansteckendes Lachen auch jetzt, beim Anblick des Fotos noch hören. Sein Lachen... das er an seine wunderbare Tochter weitergegeben hatte. Samu seufzte und wanderte mit seinem Blick weiter über die Bilderrahmen auf dem Tischchen bis hin zu dieser fliederfarbenen Wand, die ihm nicht unbedingt besser gefiel, als die Blumen auf den Küchenmöbeln. Leo auf seinem Motorrad, Leo in seinem Auto, Esther und Leo an ihrem Hochzeitstag, Leo im Garten... und Mira. Augenblicklich hielt er inne. Da war sie. Es war das erste Bild, das er seit siebzehn Jahren von ihr sah und obwohl auch sie, genau wie ihr Vater auf den Fotos glücklich schien, so war Samus Lächeln sogleich einem betrübten Gesichtsausdruck gewichen. Fast schon wehmütig beobachtete er, wie all die Bilder und Erinnerungen an sie vor seinem inneren Auge vorbeizogen. Mit aller Kraft unterdrückte er eine Träne, als diese drohte, sich aus seinem Augenwinkel zu lösen.
„Weißt du, ich behalte die Menschen lieber fröhlich in Erinnerung.", riss Esther ihn aus seinen Gedanken. Ertappt wischte er sich schnell mit dem Ärmel über die Augen und drehte sich zu ihr um. Lächeln stand sie im Türrahmen zum Wohnzimmer, eine Tasse Kaffee in der rechten und ein Glas Wasser in der linken Hand. „Komm.", meinte sie und deutete mit dem Kaffee hinter sich. Samu folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte sich an die Seite des kleinen massiven Holztisches, während Esther am Kopfende Platz nahm. Sie hielt ihm das Wasser hin, während sie ihre eigene Tasse vor sich selbst abstellte. Dankend nahm er an und trank einen großen Schluck, bevor er das Glas ebenfalls auf den Tisch sinken ließ. Oma Järvi bedachte ihren Gast währenddessen mit einem äußerst skeptischen Blick. Schon damals war er schwer zu durchschauen gewesen, doch in diesem Moment schien es ihr geradezu unmöglich, den Grund für seinen doch etwas unerwarteten Besuch herauszufinden, obwohl sie sich sicher war, diesen nur zu gut zu kennen. Samu hingegen wusste genau, dass dem nicht so war. Umso bemühter war er gerade, die richtigen Worte zu finden, was ihm alles andere als leicht fiel.
Nach einer halben Ewigkeit meinte er schließlich: „Esther, es tut mir Leid. ...Ich war so stupid not to show up.". Flüchtig sah er sie an, bevor er wieder ganz intensiv den Raum um sich herum in Augenschein nahm, als suche er nach einer passenden Formulierung. „Ich war...ich nicht wollte diese...Dings to happen...ich...", druckste er herum. Das war ja nicht auszuhalten! Esther legte eine Hand auf Samus Arm, der unruhig auf dem Tisch herum fuhr und fragte eindringlich: „Was ist los, Samu?". Er seufzte. „Ich...ich glaube ich habe sie in Berlin gesehen.". Erstaunt ließ sie seinen Arm los. „Was meinst du? Wen hast du gesehen?". Fast schon verzweifelt, dass dieser eine Satz, den er so unbedingt aussprechen musste einfach nicht den Weg über seine Lippen fand, sah er wieder in sein Glas. Doch auch als ihn seine eigene Spiegelung auf der Wasseroberfläche so tadelnd musterte, blieben ihm die Worte nach wie vor im Hals stecken. Und so schwieg er. Bis Esther endlich die Stille brach: „Weißt du, Mira wollte, dass du sie eines Tages kennenlernst.". Überrascht hob Samu den Kopf. „Das war das letzte, worum sie mich gebeten hat...bevor sie gestorben ist. Du hast davon gehört, stimmts?". Er nickte. „Das waren keine schönen Zeiten. Emma war zwar noch so klein, aber sie hat sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und eines Tages...war sie einfach nicht mehr da. Ich wusste nie wirklich, wie ich ihr das erklären sollte. Ich glaube, sie hat es sowieso von Anfang an gewusst. Kinder fühlen so was. Naja, dann hab ich sie eben alleine groß gezogen.". Abwesend wendete sie ihren Blick zum Fenster und beobachtete, wie die große Eiche, die seit eh und je davor stand leicht im Wind schwankte. „Sie ist ein wundervolles Mädchen... Und sie sieht ihrer Mutter so ähnlich...". Esther sah zu Samu, der nachdenklich die Wand hinter ihr fixierte. „Willst du ein paar Fotos sehen?", fragte sie schließlich. Langsam nickte er, also stand sie auf und holte ein dickes rotes Fotoalbum aus der Kommode, die neben dem Fernseher stand. Sie schleppte es zum Tisch und ließ sich wieder neben ihrem Besucher nieder. Als sie den Einband aufschlug und das erste Bild zum Vorschein kam, musste sie unwillkürlich lächeln und auch Samu schielte neugierig, wenn auch mit etwas gemischten Gefühlen auf die erste Seite.
Das glänzende Foto zeigte ein etwa zweijähriges Mädchen mit strohblonden Haaren und einer blauen Latzhose aus Stoff. Sie stand mit nackten Füßen im Gras und hielt stolz einen bunten, langsam zerfallenden Blumenstrauß in die Kamera. Das war sie also, seine Tochter. Nachdenklich betrachtete er das Bild. Sie sah so süß aus, wie sie da stand. Er lächelte. „In dem Alter war sie noch so blond wie du.", meinte Esther schmunzelnd. Samu lachte leise. Sie schlug sie nächste Seite auf. Aufmerksam ließ er den Blick über die kleinen Fotos schweifen. Sie zeigten das selbe Mädchen, etwas älter, vielleicht vier oder fünf, mit dunkleren Haaren, wie sie auf ihrem Fahrrad die Straße vor dem morschen Gartentürchen vorbei fuhr, auf der alten Schaukel im Garten, mit ein paar anderen Kindern auf dem Spielplatz und schlafend auf dem Rücksitz von Esthers altem matschgrünen VW Käfer. Es folgten mehr und mehr Bilder und Samu kam es vor, als ziehe ihr ganzes Leben gerade an ihm vorbei. Zum ersten mal wurde ihm klar, was er überhaupt in all den Jahren verpasst hatte. Und je älter sie wurde, desto mehr erinnerte sie ihn an ihre Mutter. Die Frau, die er über alles geliebt und verlassen hatte...und jetzt war sie tot. Er spürte, wie sich seine Augen erneut mit Tränen füllten und seine Nase zu laufen begann. Er schniefte kurz und wischte sich mit den Fingern über die Augen. Das ihn das so sehr mitnehmen würde, hätte er in hundert Jahren nicht erwartet.
Plötzlich ertönte ein Klicken und im nächsten Moment prallte die schwere Haustür auf den kleinen Türstopper im Flur. „Ich bin wieder da.", rief Emma. Erschrocken sah Samu Esther an. Intuitiv klappte sie das Album in einer schnellen Bewegung zu und sprang auf.
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Suomi, hei!
FanfictionWas, wenn du dein kleines perfektes Leben auf einmal komplett über den Haufen schmeißen müsstest? Was, wenn sich alles verändert und das nur, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst und auf jemanden triffst, den du eigentlich für tot gehalte...