Kapitel 4 - Landung in Helsinki

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Nervös zupfte Emma an dem dünnen Silberarmband ihrer Mutter herum, das Oma Järvi ihr zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt hatte. In ihrem Kopf ging gerade alles drunter und drüber. Gerade war sie noch mit Marie durch Berlin spaziert und keine achtundvierzig Stunden später saß sie in einer knallrot lackierten Boeing 737 der pleite gegangenen Airline besagter Stadt in Richtung Norden. Finnland, um genau zu sein. Wie es dazu gekommen war, das war Emma bis zu diesem Moment noch nicht richtig klar geworden. Aber auf keinen Fall wollte sie wieder zurück nach Deutschland. Nicht, weil sie ihre Oma nicht vermisste, nein, hauptsächlich weil der kleine Bildschirm zwischen der Leselampe und dem Rauchen-verboten-Zeichen ihr verriet, dass es keine zehn Minuten mehr waren, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen haben würde.

Erschrocken klammerte sie sich in den Armlehnen fest und kniff die Augen zusammen, als sie spürte, wie sich das Flugzeug nach links neigte. Noch nie in ihrem Leben war sie geflogen, geschweige denn, hatte sie in einem dieser unbequemen Ledersitze gesessen. Doch von dem Moment an, als der Pilot, der verdächtig nach Philipp Poisel klang, wie Emma fand, die Triebwerke gestartet und das Flugzeug ins Rollen gebracht hatte, wusste sie, dass ihr das hier ganz und gar nicht geheuer war. Ein Grund mehr, der sie nicht verstehen ließ, warum Oma Järvi sie ganz alleine in dieses Flugzeug gesetzt hatte.

Vorsichtig riskierte sie einen Blick aus dem kleinen Fenster neben ihr, als sie den kräftigen Ruck spürte, wie die Räder auf der Landebahn aufsetzten und der singende Pilot augenblicklich in die Eisen stieg, um die Maschine zum stehen zu bringen. Die Bäume zogen in atemberaubender Geschwindigkeit an ihr vorbei und als sie ein stehendes Flugzeug passierten, kniff Emma erneut die Augen zusammen, in der Hoffnung, die Tragflächen würden nicht aneinander stoßen.

Mit aller Kraft hievte sie den alten, langsam zerfallenden Koffer von Opa Leo vom Gepäckband bevor er mit einem lauten Rums auf den Boden der Ankunftshalle knallte. Seufzend zog Emma ihr Gepäck am letzten übrigen Griff wieder in eine aufrechte Position, bevor sie ihn an eben diesem Griff hochhob und sich, trotz der Befürchtung, es wäre nicht die letzte Begegnung des Koffers mit dem Linoleum unter ihren Füßen gewesen auf den Weg nach draußen machte. Sie zog den kleinen weißen Zettel, den Esther ihre gegeben hatte, um sich zurecht zu finden aus der Hosentasche und suchte das finnische Wort für 'Ausgang'. 'Exit' stand auf dem Zettel. Resigniert schloss Emma die Augen und seufzte. Das hätte sie auch ohne Omas Hilfe herausfinden können. Sie hob den Kopf und folgte den Pfeilen auf den Schildern über den Türen.

Etwa zur selben Zeit, hatte Samu gerade seinen schwarzen BMW M4 auf dem überfüllten Parkplatz geparkt und war nun auf dem Weg zum Flughafengebäude. Er war mindestens so nervös wie Emma, wenn nicht sogar noch mehr. Plötzlich war alles so schnell gegangen. Kaum war er aus Berlin zurück gewesen, hatte Esther ihn auch schon angerufen, um ihm mitzuteilen, dass Emma es versuchen wollte. Sie wollte es versuchen? Was versuchen? Was, wenn es nicht funktionieren würde? Seine Gedanken überschlugen sich. Was es das, was er im Sinn hatte, als er ihr gesagt hatte, wer er war? Ein Hupen und das laute Quietschen der Reifen des Taxis, das nur einige Zentimeter neben ihm zum Stehen kam, rissen ihn aus seiner eigenen Welt. Erschrocken zuckte Samu zusammen, als er begriff, was gerade passiert war. Immer noch verwirrt, machte er eine entschuldigende Geste in Richtung des Fahrers und legte einen Zahn zu, um Emma nicht zu verpassen.

Etwas verloren sah sie sich in der riesigen Eingangshalle um, während sie sich ihren Weg durch die hektischen Leute, die überall um sie herum wuselten, bahnte. Doch dann entdeckte sie ihn. Den Mann, den sie vor zwei Tagen in dem kleinen Coffeeshop in Berlin zum ersten Mal gesehen hatte. Und der an diesem Tag im Wohnzimmer ihrer Oma gestanden und ihr etwas gesagt hatte, dass sie im Leben nicht für möglich gehalten hätte. Langsam ging sie auf ihn zu, während sie fieberhaft überlegte, was sie zu ihm sagen sollte. Doch noch bevor sie sich zu sehr den Kopf darüber zerbrechen konnte, machte er ebenfalls ein paar Schritte auf sie zu und schloss sie einfach in seine Arme. 

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