L

28 8 0
                                    

Der Brief war mit Klebeband zusammengeklebt und mit rosa Farbstift angemalt. Eine kleine Krone war auf die Vorderseite gemalt

An: Prinzessin Johanna

Ich öffnete ihn. Lesen konnte ich noch nicht, doch sie las ihn mir vor. Sie war 10 Jahre älter.

"Komm um 14 Uhr in das königliche Zimmer von Prinzessin Sophie und bring den kleinen Prinzen Jakob mit. Die liebsten Grüße schickt dir Prinzessin Elisabeth"

Ich liebte es, wenn sie mit uns Prinzessin spielte. Mit bunten Tüchern umwickelt tanzten wir dann durch das Haus. Auch mein kleiner Bruder wurde eingekleidet. Wir spielten immer Rollenspiele. Einmal waren wir Fischer, ein anderes Mal Bären, dann wieder Prinzessinnen oder Burgdamen.

Einmal, unsere Eltern waren nicht Zuhause, standen wir zu viert in der Küche und tanzten zur Musik der Gummibärenbande, als das Telefon klingelte und sie abhob. Sie hielt den Hörer ans Ohr und antwortete anstatt mit unserem Nachnamen mit "Gummibär?". Wir lachten und lachten.

Wenn ich an diese Erinnerungen zurückdenke, sind es stehts schöne Gedanken, fast schon kitschig und ich bin mir nicht sicher ob ich diese Zeit nicht im Nachhinein romantisiere.

Ich erinnere mich nicht mehr an den Tag, an dem sie weg ging oder besser gesagt an den Tag an dem sie zurück kommen solle, aber nicht zurück kam. An die Zeit danach erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Doch das Leben ging weiter, als hätte ich sie gar nicht gekannt. Kein Gefühl von Verlust, kein Gefühl jemanden zu vermissen, gar kein Gefühl. Sie war 16 und hatte offenbar beschlossen ein neues Leben zu beginnen. Ohne mich, ohne meine Geschwister, ohne meine Eltern.

Wir schrieben Briefe, bekamen aber keine Antwort. Kurz vor Weihnachten, circa sechs Monate nach ihrem Wegziehen, erhielten wir einen Brief. Nur wir, meine Geschwister und ich. Es war ein Prinzessinnen Brief. Einer mit Krone auf der Vorderseite.

"Liebe Prinzessinnen Johanna und Sophie, lieber Prinz Jakob!"

Beigelegt war eine CD mit Kindergeschichten, die wir uns rauf und runter anhörten.

Wieder schrieben wir Briefe und versuchten anzurufen. Einmal antwortete sie am Telefon mit ihrem neuen Namen und ich sagte etwas, doch sie legte auf, als sie begriff, dass ich es war. Zu meinem siebten Geburtstag schickte ich ihr eine Einladung zu meiner Geburtstagsfeier und zu meinem Achten und meinem Neunten. Nie kam etwas zurück.

In sechs Jahren hatte sie nur einmal angerufen, gesehen hatte ich sie nie. Inzwischen lag mein 12. Geburtstag hinter mir und ich hatte es schon lange aufgegeben Kontakt zu ihr herzustellen, doch als ich die Möglichkeit bekam sie zu besuchen, ergriff ich diese und fuhr mit meiner Mutter und meinem Bruder zu ihr. Meine Schwester wollte nicht mit.

Das Treffen verlief seltsam, denn sie war mir fremd geworden. Trotzdem sah ich sie in der nächsten Zeit noch ein paar Mal, doch sie wurde mir immer unsympathischer und schien sich auch nicht dafür zu interessieren, weiterhin Kontakt zu pflegen.

Elf Jahre sind vergangen, seitdem ich mich ihr das letzte Mal nahe gefühlt habe. Elf Jahre in denen ich sie ungefähr viermal gesehen habe. Elf Jahre in denen sie mir nicht einmal zum Geburtstag gratuliert hat.

Manchmal frage ich mich, ob mein Leben grundlegend anders verlaufen wäre, wenn sie bei uns geblieben wäre. Wäre es besser gewesen, wenn ich sie nicht noch einmal getroffen hätte? Wenn ich nur die schönen Kindheitserinnerungen an sie hätte? Vielleicht, aber all das sind nur Spekulationen.

Was ich ihr noch zu sagen habe? Nichts, denn die Zeiten die uns verbinden, liegen elf Jahre zurück.

Book of Life Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt