der busfahrer

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Ich steige ein und setze mich ganz vorne auf einen der Plätze. Ans Fenster. Ich schlage mein Buch auf und lese weiter. Vor zwei Minuten hatte ich auf der Bank an der Haltestelle noch gelesen. "Er hielt inne. Mr. Keating wiederholte: "Pflückt Rosenknospen solange es geht." Der lateinische Ausdruck lautet Carpe diem. Weiß jemand, was da-" "Das ist schon nett, wenn man junge Leute heutzutage noch lesen sieht!" Mach ich ja jetzt nicht mehr, denke ich und schlage das Buch zu. Ohne den Straßenverkehr aus den Augen zu lassen, spricht er weiter. "Die meisten starren ja nur noch in ihre Handys." 

"Bitte nicht mit dem Busfahrer sprechen.", steht direkt über dem Rückspiegel. Ich hab ja nicht angefangen, sagt meine innere Stimme und ich antworte, "Ich muss es für die Schule lesen." Das sage ich,  weil es stimmt, teils aus Trotz und teils um dem Klischee zu entsprechen. Dass ich das Buch schon früher mal gelesen habe und dass ich lesen allgemein liebe, verschweige ich und warte auf eine Reaktion. Doch er bleibt stumm. Doch wenn man einmal miteinander gesprochen hat und dann nicht flüchten kann (und es wäre mir komisch erschienen, aufzustehen und mich nach hinten zu setzen), sieht man sich gezwungen weiter zu reden. Aso frage ich, "Haben Sie das Buch schon mal gelesen?" "Natürlich", lacht er, "und noch viele andere!" Ich sehe, dass er sich freut, dass jemand mit ihm spricht und ich freue mich, ihn glücklich zu sehen. Mir wird klar, dass es seltsam sein muss, von so vielen Leuten umgeben zu sein, die miteinander reden und lachen, während man selber nur manchmal ein kurzes "Hallo" zu hören bekommt. Er tut mir plötzlich leid, weil ich weiß, was es heißt, sich in einer Menschenmenge einsam zu fühlen. 

Jede Woche, wenn ich um eine bestimmte Uhrzeit in den Bus steige, setze ich mich an meinen Platz und er sitzt an seinem Platz und wir führen unser Gespräch dort weiter, wo wir es das letzte Mal beenden mussten. Inzwischen sprechen wir hauptsächlich über Philosophie und die Veränderung der Gesellschaft. Er gibt mir Buchtipps und ich sage ihm, was ich von den Büchern halte. Als ich einmal zu ihm sage, er hätte Philosoph werden sollen, seufzt er nur und sagt, "Alle Philosophen die ich kenne, sind unglückliche Menschen. Sie versuchen die Welt zu erfassen und zerbrechen entweder daran, dass sie sie nicht verstehen können, oder daran, dass sie sie verstanden haben und mit dem was sie herausgefunden haben, nicht leben können." 

Das nächste Schuljahr hat begonnen und der Busfahrer fährt auf einer anderen Linie. Manchmal sehe ich ihn, wenn er in einem Bus vorbeifährt. Einmal ist ein solcher Moment und obwohl mein Bus schon die Tür zum Einsteigen geöffnet hat, steige nicht gleich ein, damit ich ihn noch betrachten kann. Er sieht immer etwas melancholisch aus mit seiner Halbmondbrille, den grauen Haaren und den leichten Fältchen um die Augen. Immer etwas traurig. Immer ein wenig einsam. Immer nachdenklich.

Wie ein verlorener Philosoph, denke ich und steige ein.

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