❝I try to be everything that I can
But sometimes I come out as bein' nothin'❞ ~ Juice WRLDEthan Winter wischte sich mit dem bereits vor Schweiß triefendem Handtuch über seine feuchte Stirn und warf es anschließend achtlos in eine Ecke. Dann steckte er sich wieder seine Kopfhörer in die Ohren. Die laute Musik übertönte das angestrengte Keuchen von Adrian, der auf der anderen Seite des großen Fitnessraums Hanteln stemmte. Sein Bruder fing seinen Blick auf und zog eine Grimasse, woraufhin der Thronfolger Englands ihm den Mittelfinger zeigte. Sie hatten schon länger nicht mehr gemeinsam Sport gemacht. Überhaupt fiel Ethan auf, dass er seinen jüngeren Bruder in den letzten Wochen nur selten vor Gesicht bekommen hatte. Heute schienen sie beide denselben Einfall gehabt zu haben: Den Kopf noch einmal freizukriegen, bevor sein Vater diesen Nachmittag sein großes Spektakel eröffnen würde. Sobald Ethan daran dachte, ballte er die Fäuste vor Wut und biss die Zähne zusammen. Da er wusste, dass ihm dies nichts bringen würde, schüttelte er nur frustriert den Kopf und joggte zum Laufband.
Während er rastlos lief, schaute Ethan aus den riesigen Fenstern des Studios, welche ihm einen Ausblick auf die entfernten grünen Flächen und den riesigen See gewährten, die die Schlossinsel umgaben. Den Südflügel des Schlosses hatte er bereits als Kind häufig aufgesucht und war schließlich trotz der Tatsache, dass die Gemächer seines Bruders und Vaters auf der anderen Seite des Schlosses lagen, hier hingezogen. Er liebte es, wenn das Studio bei Sonnenuntergang in Gold getaucht war und dass er von der Terrasse seines Zimmers aus Blick auf die Gartenanlagen hatte, durch die er gerne ritt.
Besonders heute musste er jedes Bisschen Ruhe, dass er bekam, voll auskosten, denn er wusste, dass er diese endgültig aufgeben musste, sobald die ersten Frauen Schloss Winter betraten. Bereits jetzt ließ sich nicht leugnen, dass heute ein großer Tag bevorstand. Es war erst sechs Uhr morgens und doch liefen die Vorbereitungen für den Empfang der 50 Frauen, die an dem Contest teilnehmen würden, bereits seit Stunden. Der Duft von frischgebackener Erdbeertorte stieg Ethan in die Nase und sein Magen knurrte. Während dieser Contest sich langsam zum größten Einfall König Richard Winters entwickelte und im Munde aller Menschen des Landes war, fürchtete er seinen Beginn. Ethan hatte sich von Anfang an vehement dagegen gewehrt, an diesem Projekt seines Vaters teilzunehmen und ihm und seinen Beratern Steine in den Weg gelegt, wo er nur konnte. Doch wie der König es ausdrückte, hatte er als Thronfolger die verdammte Pflicht, die nächste Generation zu sichern und die königliche Familie im besten Licht zu präsentieren. Ethan kniff die Augen zusammen und versuchte die leise, Wut unterdrückende Stimme seines Vaters aus seinem Kopf zu vertreiben, die ihn rund um die Uhr verfolgte. Er blickte auf seine Smartwatch hinunter, die ihm anzeigte, dass er bereits 10.000 Schritte gemacht hatte. Da der Prinz immer noch nicht das Gefühl hatte, seine düsteren Gedanken vertrieben zu haben, entschied er prompt, das Laufband auf die höchste Stufe zu stellen. Bald konzentrierte er sich nur noch auf seinen Atem und stellte sich mit Blick aus dem Fenster verbissen vor, wie es wäre, einfach aus dem Schloss zu flüchten und seinen Verantwortungen zu entkommen.Als Ethan langsamer wurde, stellte er das Laufband ab und pflückte seine Wasserflasche vom Boden, die er in einem Zug entleerte. Er schaute erneut rüber zu Adrian. Er wusste, dass sein Bruder noch längst nicht daran dachte, aufzuhören. Anscheinend war er jetzt bei seinen täglichen 100 Liegestützen angekommen. Er schien Ethans Blick nicht zu bemerken und zählte konzentriert mit. »44...45...46«. Ethan schnappte sich sein benutztes Handtuch und seine Sporttasche und ging in Richtung Tür an seinem Bruder vorbei. Er tat so, als würde er weiter die Tür ansteuern, überlegte es sich im letzten Moment anders und lief zu Adrian, der die Augen verdrehte und einfach weiter seine Liegestützen machte. Ethan grinste, als er das sah und riss ihm prompt einen Ohrstöpsel aus dem Ohr:
»98, 35, 346.000, du kannst aufhören!«, rief er laut und lachte. Adrian schien sichtlich zu überlegen, ob er seine Routine abbrechen und es Ethan zurückzahlen sollte, doch er machte nur eine abweisende Handbewegung und steckte sich schnell wieder seinen Kopfhörer ins Ohr. »Dann halt nicht«, zuckte Ethan mit einem bösen Grinsen seine Schultern und verließ, nicht ohne einen zufriedenen Blick auf die Spiegel hinter seinem Bruder zu werfen, das Studio.
Bevor Ethan duschen gehen und sich in den Anzug zwängen würde, der für den heutigen Tag für ihn angefertigt wurde, hatte er noch eine Sache zu erledigen. Er machte nur einen kurzen Halt in seinem Zimmer und schmiss seine Sporttasche auf sein Bett. Dann zog er einen ordentlich gefalteten grünen Wollpullover aus seinem Schrank und warf ihn über sein durchgeschwitztes Hemd. Anschließend eilte er die Treppen zum Erdgeschoss des Schlosses hinunter und ging erst bei den Ställen vor den königlichen Gartenanlagen langseren Schrittes. Der Stalljunge, der gerade summend die vorderste Box schloss, drehte sich erschrocken um. Ethan nickte dem neunjährigen Benny zu und schenkte ihm ein schmales Lächeln. Daraufhin salutierte Benny in bester Manier. Er hatte immer noch nicht verstanden, dass man dies nur im Militär tat und sich - wenn es nach Ethan ging - überhaupt nicht vor ihm zu verneigen brauchte. Schließlich kannte er Benny, seit dieser mit dem Kopf lediglich bis zu seinen Knien reichte und sich oft an seine Reithose geklammert hatte, um ihm zum Stall begleiten zu dürfen. Ethan wuschelte dem Jungen das kurze rote Haar und warf ihm einen dankbaren Blick zu. Benny hatte wie jeden Tag gewissenhaft die sechs Boxen des kleinen Stalles gereinigt und sich um Bonfire gekümmert.
»Schau mal, ob du Helene schon was aus der Küche stibitzen kannst. Ich glaube, sie hat gerade Croissants aus dem Ofen geholt!«, flüsterte Ethan Benny verschwörerisch zu und zwinkerte. Dieser schmunzelte und nickte und war dann innerhalb weniger Sekunden vom Platz verschwunden. Ethan schritt auf Bonfires Box zu und drückte seine Stirn gegen den warmen Hals seiner Stute. Benny hatte ihren Krug mit Wasser gefüllt, sie gestriegelt und ihre fast schon silberne Mähne gebürstet, sodass er sie nur noch Satteln musste. »Na, meine Schöne. Bist du bereit für einen kurzen Ausritt?« Bonfire schnaubte und scharrte mit den Hufen über den Stallboden. Ethan lachte leise und klopfte ihr auf den Hals. »Heute aber wirklich nur kurz, okay? Ich hab leider noch eine ganze Menge zu erledigen.« Als ob Bonfire ihn verstehen würde, warf sie ihm mit ihren großen braunen Augen einen scharfen Blick zu. Ethan versuchte diesem auszuweichen und öffnete den Riegel ihrer Box. Sobald sie aus dieser heraustrat, stupste sie ihn ziemlich unsanft in die Seite und schritt stolz auf den weißen Kieselweg. Ethan schaute ihr verblüfft hinterher und warf dann hilflos die Hände in die Höhe.
In der aufgehenden Morgensonne glänzte Bonfires Fell perlweiß. Obwohl die Gräser und Sträucher um sie herum noch mit Tau bedeckt waren, wehte ein milder Wind über sie hinweg. Ethan zog tief den Duft von frisch gemähten Rasen ein. Geübt schwang er sich in den Sattel und gab seiner Stute mit einem Schnalzen das Signal loszureiten. Langsam ritten sie über die feinen weißen Kieselsteine, die den Großteil des Hofes um den Stall bedeckten und verließen diesen geradewegs über die kleine Brücke, die zum großen Schlossgarten führte. Ohne auf ein weiteres Zeichen Ethans zu warten, wurde Bonfire immer schneller, bis sie schließlich auf einer Weide anhielt. Nachdem Ethan von ihrem Rücken glitt, streckte er sich und ließ sich deutlich entspannter als zuvor auf das hohe Gras unter einem blühendem Apfelbaum fallen. Diese Stelle war seit seiner Kindheit sein Rückzugsort gewesen, an dem er sich seinen finstersten Gedanken stellen oder sie einfach abschalten konnte.
Deutlich schwerfälliger ließ sich Bonfire ebenfalls neben ihn sinken und der Prinz vergrub seine Hände in ihr warmes Fell. Während er sie kraulte, versuchte er sich auf den Wettbewerb einzulassen, den König Richard in die Wege geleitet hatte. Wettbewerb - das Wort schwebte wie eine dunkle Gewitterwolke über ihm. Wie konnte man von ihm erwarten, dass er seine Zukünftige unter 49 weiteren Frauen wählte wie andere ihren Kaffee bei Starbucks? Wie konnte man von ihm erwarten, sich mit nur 23 Jahren für eine Frau zu entscheiden, für die er sich nicht interessierte, sondern die die Wahl seines Vaters war? Er hasste es, wie viel Einfluss sein Vater auf sein Leben hatte, jedoch hatte er schon lange akzeptiert, dass er dies als Thronfolger über sich ergehen lassen musste. Doch wenn es um die Frau ging, die später mit ihm regieren würde und mit der er Nachkommen zeugen musste, sollte er da nicht ein verdammtes Mitspracherecht haben?! Er schnaubte bitter. Sein Kopf pochte und er ließ ihn unsanft gegen den rauen Stamm hinter sich sacken, was die Kopfschmerzen nicht gerade besser machte. Allerdings wusste er auch, dass nichts, rein gar nichts den sich ankündigenden Migräneanfall lindern würde. Gequält stieß er einen Seufzer aus. Er würde für immer an die Frau gebunden sein, für die er sich letztendlich entscheiden würde. Schließlich war das das Motto ihres Hauses. Für immer. Für euch. Und es war das Versprechen gewesen, dass seine Mutter seinem Vater gegeben hatte. Sie würde ihn für immer lieben und respektieren und an seiner Seite blieben. Und sie beide meinten was sie sich versprachen. Bis sie letzteres nicht mehr einhalten konnte, weil sie sich dafür entschied, dass er, Ethan, leben konnte. Sein Vater, der jeden Tag das goldene Medaillon trug, dass er seiner Mutter zu ihrem 15. Jahrestag geschenkt hatte, konnte ihm das nicht verzeihen. Er hatte es zwar nie laut ausgesprochen, aber es war kein Geheimnis, so wie er ihn immer gemieden und schon in seinen jungen Jahren kein Verständnis gezeigt hatte, wenn Ethan - wenn auch nur für kurze Zeit - ein ganz normaler Junge sein wollte. Am Ende des Tages würde König Richard stets über die Inschrift »Richard & Lydia« des goldenen Medaillons streichen und daran denken, dass seine Liebste noch bei ihm wäre, wenn sie nicht bei Ethans Geburt gestorben wäre. Träge versuchte Ethan die grellen Blitze wegzublinzeln, die vor seinem inneren Auge erschienen und stechende Schmerzen hinterließen. Als ihm dies nicht gelang, schloss er seine Augen und presste seine Fäuste gegen diese. Beunruhigt schnaubte Bonfire und ihr warmer Atem streifte sein Gesicht. Regungslos blieb er sitzen und wartete darauf, dass seine Kopfschmerzen einigermaßen abebbten. Bonfires regelmäßiger Atem und die warmen Sonnenstrahlen, die sein Gesicht wärmten, sorgten dafür, dass er schon bald vor sich hindöste.
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Rough Diamond
RomanceAls Kontrollfreak Adeline eines Tages aus ihrem eingespielten und doch anstrengenden Alltag herausgerissen und im Auftrag des königlichen Schlosses Winter abgeholt wird, scheinen gleichzeitig ihre Träume und Albträume wahr zu werden: Zum ersten Mal...