Kapitel 1

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"Wenn du jetzt gehst brauchst du dich hier nie wieder blicken zu lassen!" - "Schön! Bist du fertig? Dann werde ich nämlich gehen!" - "Ich wünsche dir ein tolles Leben ohne deine Familie und hoffe du bereust deine Entscheidung nicht irgendwann! Tschüss!" Ein Stuhl wird umgeschmissen und mit dem lauten Knall einer Tür, die zugeschlagen wird wache ich schweißgebadet und voller Panik auf.

Dieser Traum verfolgt mich schon seit Jahren... immer wenn ich mit Dad kurz über ihn gesprochen hatte träumte ich die ganze Nacht von den wenigen Dingen, die ich über ihn wusste. Ich kannte ihn praktisch gar nicht und aus diesem Grund durfte ich mir jetzt nicht weiter den Kopf über ihn zerbrechen. Ein Blick auf die Uhr ließ mich genervt stöhnen und ich hatte den Traum genauso schnell wie er geendet hatte aus meinen Gedanken verdrängt. Es war genau 6:00 Uhr und um 6:30 Uhr würde mein Wecker klingeln. Wie sollte ich in einer halben Stunde noch mal einschlafen können?

Das Licht, das ich beim Aufwachen sofort angemacht hatte, brannte immer noch in meinen Augen und ich musste die ganze Zeit blinzeln. Daher würde ich meine Zeit wohl nicht mit Lesen vertreiben. Also öffnete ich die Schublade meines Nachttisches und kramte nach meinem MP3-Player. Dummer Weise hatte ich die dazugehörigen Kopfhörer bei meinem Handy mitten auf dem Teppich liegen lassen.

Mühselig versuchte ich nun diese zu erreichen und streckte mich so weit es ging über die Kante meines Bettes. Doch so geschickt wie ich war, viel ich bei meinem Experiment samt meiner Bettdecke auf den kalten Boden. Ich hatte mir nichts getan doch ich war leicht verärgert darüber, dass ich mich nicht mehr in meinem warmen Bett befand. Nachdem ich mich, die Decke und die Kopfhörer wieder auf die Matratze gehievt hatte kuschelte ich mich sofort ein und schaltete die Musik an. Sobald ich die Musik in meinen Ohren hörte entspannte ich mich, legte den Kopf zurück aufs Kissen und schloss meine Augen.

Das nächste was ich wieder mitbekam war das schrille Klingeln meines Weckers. Da ich schon wach war beschloss ich sofort aufzustehen und zu frühstücken. Normalerweise würde ich noch eine halbe Stunde liegen bleibe und darauf warten, dass mich mein Dad nochmals wachrüttelte, doch heute war es besser wenn ich mehr Zeit hatte zum anziehen. Denn heute sollte die Fotos für das Jahrbuch unserer Schule gemacht werden. Und da war es nur von Vorteil wenn man genug Zeit hatte sich noch ein paar Mal um entscheiden zu können was man anziehen möchte.

Bevor Ich mich jedoch in die Küche begab, ging ich ins Badezimmer. Beim Blick in den Spiegel war ich sehr überrascht. Ich hatte fast keine Augenringe, die ich eigentlich nach dieser Nacht erwartet hatte und meine Haare standen auch nicht in alle Richtungen ab. Trotzdem beschloss ich sie vorerst in einem lockeren Zopf hochzubinden und sie dann später ordentlich zu kämmen.

Mein Dad war so in seine Zeitung vertieft, dass er gar nicht bemerkte wie ich an ihm vorbei ging und mir ein Glas Orangensaft einschenkte. Ich war bereits schon am Essen, als er seine Augen von dem offensichtlich sehr spannende Artikel löste und mich von gegenüber etwas zu besorgt anschaute. "Stimmt etwas nicht mit, Mia? Hast du nicht gut geschlafen? Wie geht es dir heute?" Fing er an mich zu löchern. Ich mochte seine Überfürsorglichkeit nicht besonders, aber ich nahm ihm nicht übel, dass er sich so gut um mich kümmerte. Jedoch wollte ich ihm auch nicht die Wahrheit über meine Träume erzähle, da er sonst bestimmt viel zu impulsiv handeln würde.

Also sagst ich halb wahr halb gelogen:" Daddy mir geht es gut! Und ich habe super geschlafen. Ich bin nur früher aufgestanden, um genug Zeit zum Fertigmachen zu haben, weil doch heute die Jahrbuchfotos gemacht werden." Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder und er lächelte mir zu. "Na dann, einen wunderschönen guten Morgen mein Schatz!" Fügte er noch hinzu, wahrscheinlich, um seine Panik von eben ungeschehen zu machen.

Nach dem Frühstück entschied ich mich dazu, zuerst meine Zahne zu putzen. Während ich also das zweite mal an diesem Tag vor dem Spiegel stand, vielen mir sofort die beiden hässlichen Narben in meinem Gesicht und an meinem Hals auf.

Die größere der beiden verlief von meiner Schläfe aus über meinem rechten Ohr entlang bis hoch zum Hinterkopf. Sie war so breit, dass dort wo sie entlang lief keine Haare mehr wuchsen. Immer wenn ich als meine Haare zusammenband, konnte man sie den dicken weißen Halbkreis an meinem Kopf sehen. Daher trug ich eigentlich so gut wie nie einen Zopf in der Öffentlichkeit.

Die zweite Narbe, die eigentlich viel kleiner und unauffälliger war, befand sich unmittelbar unter dem Kehlkopf in der kleinen Einkerbung am Hals. Ich fand sie viel hässlicher und auffälliger als die andere, da sie ziemlich rosa und sehr rund war. Einfach nur bescheuert sah das aus.

Schnell sah ich weg und griff nach der Make_Up Dose, die im Regal neben dem Waschbecken stand. Großzügig verdeckte ich sowohl den Ansatz der Narbe an der Schläfe als auch den Knubbel an meinem Hals. Das klappte heute ausnahmsweise mal ganz gut. Zufrieden nahm ich nun meinen Eyeliner und zog damit einen dicken Strich entlang des oberen Wimpernkranzes. Obwohl ich das so gut wie nie machte gelang mir auch das heute hervorragend.

Optimistisch ging ich zurück in mein Zimmer, um meine Wimperntusche zu suchen und mich anzuziehen. Da es diesen Mai schon relativ warm war, konnte ich problemlos mein türkisenes Kleid und meine Jeansjacke anziehen. Das Outfit gefiel mir auf Anhieb so gut, dass ich mich auch nicht mehr umziehen brauchte. Jetzt fehlte nur noch die Wimperntusche. Ich betrachtete mich in dem großen Spiegel an meinem Kleiderschrank und war wirklich sehr zufrieden mit meinem Werk.

So glücklich wie heute Morgen war ich schon lange nicht mehr. Doch keiner wusste so gut wie ich, dass dieses Gefühl spätestens in der Schule verflogen sein würde.

Ich schon diesen deprimierenden Gedanken jedoch genauso leicht zu Seite wie ich es bei den Erinnerungen an den Traum von gestern Nacht getan hatte. 

Mit der braunen Tasche, in der ich heute meine Schulsachen verstaut hatte, am Arm ging ich in Richtung Wohnungstür. Im Flur saß mein Dad und band gerade seine Schuhe zu. Als er fertig war schaute er auf und war sichtlich gerührt. "Du siehst beeindruckend aus, Kleines!" Ich erwiderte ein schüchternes Danke und ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen. "ich habe dich soooo lieb! Und bin wahnsinnig froh doch zu haben!" Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: "Ich dich doch auch! Ich wüsste gar nicht was ich ohne eine so starke Tochter tun würde!"

Nach unserer kleine Kuscheleinlage und den vielen Komplimenten, die wir definitiv sehr selten so extrem austauschten, zog ich ebenfalls meine Schuhe an. Zusammen verließen mein Dad und ich die Wohnung. An der Haustür die nach hinten zu unserem Auto führte blieb er noch mal stehen. "Ich hoffe du hast einen schönen Tag!", waren seine Worte als er durch die Tür auf den Parkplatz verschwand.

Ich selbst öffnete die vordere Haustür und trat auf die Straße. Die Luft war wie erwartet recht warm und auf meinem Weg zu der fünf Minuten entfernten Bushaltestelle, trug ich das Lächeln meines Vaters auf den Lippen.

Ich ahnte nichts Böses für diesen Tag und trotzdem wusste ich, dass er nicht so gut weiter gehen würde wie er, abgesehen von dem Traum, angefangen hatte...

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