Wie versteinert stehe ich auf dem Bordstein und Panik befällt mich: Was will er von mir? Soll ich ihn einfach ignorieren? Soll ich wegrennen? Doch ich drehe mich nur langsam um. Aus lauter Angst starre ich auf den Boden. Tausend Szenarien schweben vor meinem inneren Auge: Er wird mich überfallen, oder schlimmer! Und was will er stehlen? Dein Geld oder deine Entscheidungsfreiheit? erinnert mich die Stimme in meinem Kopf, dass ich beides nicht dabeihabe und meine Angst senkt sich ein wenig. Irritiert sehe ich in grobe die Richtung, aus der die Stimme des Fremden kommt. Eine dreckige Markise verbirgt jedoch sein Antlitz. Alles, was ich erkennen kann sind eine Zigarette, die kurzzeitig aufglüht und überkreuzte Füße, die in weißen Basketballschuhen stecken. Der Regen tropft in mein Gesicht und ich muss die Augen zukneifen, damit ich nicht andauernd blinzeln muss. Der Fremde stützt sich von der Wand ab und bewegt sich in meine Richtung. Er tritt in den schwachen Schein der Straßenlaterne und ich weiche instinktiv zurück als ich ihn ansehe. Er trägt verwaschene Bluejeans und eine Lederjacke, darunter ein gelb-orange gemustertes Hemd. Seine Haare reichen bis zu seinen Schultern. Sie sind aschblond und feucht durch den Regen. Er hebt die Hand, zieht an seiner Zigarette und lässt sie wieder sinken. Ich erwarte, dass er anfängt zu reden, doch er bläst nur den Rauch in die kalte Nachtluft. Schließlich sieht er mich wieder an und zieht einen Mundwinkel hoch. „Wartest du auf irgendwas?" Was? „Wie bitte? Sie...ich meine, sie haben mich angesprochen. Sie wollten doch irgendetwas sagen, oder nicht?" Meine Angst ist längst verflogen, stattdessen starre ich ihn völlig überfragt an. Er lacht nur kurz auf und streicht sich seine feuchten Haare aus der Stirn. „Es wandern ja viele einsame Gestalten nachts auf der Straße herum...Aber für gewöhnlich nicht so unpassend angezogen, oder wie siehst du das? Oh, Verzeihung. -sie, Miss...?" Ein Schmunzeln macht sich auf seinen Lippen breit als ich an meinem Kleid heruntersehe. Das Letzte, was ich brauche ist ein willkürlicher unverschämter Idiot, der sich über meine Situation und insbesondere über meine Garderobe lustig macht. „Verzeihung, dass sie nicht in den Genuss guter Erziehung kommen durften! Wenn sie mich entschuldigen, sie verschwenden meine Zeit", werfe ich zurück und wende mich mit einem Augenrollen zum Gehen. „Von guter Erziehung kann man bei dir auch nicht wirklich reden, Missy!" meint er plötzlich. Jetzt reicht es mir. Schnellen Schrittes laufe ich wieder auf ihn zu. „Noch nie habe ich jemanden getroffen, der dermaßen unverschämt war," rufe ich sauer, „wieso verschwenden sie nicht die Zeit von jemandem an einem Ort, an den sie besser passen, zum Beispiel nach Queens!" Sofort bereue ich, was ich gesagt habe und zucke zusammen. Seltsamerweise verändert sich seine Miene kein Stück. Ich will mich entschuldigen, doch andererseits bin ich zu stolz um meine Worte zurückzunehmen. Dann nimmt er die Hände hinter dem Rücken zusammen und beugt sich zu mir herunter, gerade so viel, dass er mir in die Augen sehen kann. „Bist du schon da gewesen?" fragt er auf einmal mit unheimlich ruhiger Stimme. Er ist mir so nah, ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Und ich wette, er hört wie mein Puls immer schneller wird. „Soll ich dir die Gegend zeigen? Bei Nacht ist es dort besonders schön." Seine Augen leuchten fast schon grellgrün durch die laternenbeleuchte Dunkelheit. Er blinzelt kein einziges Mal, er starrt mir nur in die Augen, wartet, dass ich etwas sage, doch weiß, dass ich kein Wort herausbringen kann. „Doch an deiner Stelle würde ich auf den beleuchteten Straßen bleiben", warnt er und zieht eine Braue hoch. Plötzlich spüre ich seine Hand an meinem Oberschenkel wie er langsam über den Stoff am Saum meines Kleides streicht. Eine unangenehme Hitze breitet sich in mir aus und meine Kehle fühlt sich an als würde ich ersticken. „Die sind da alle ziemlich schräg drauf", ein Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. Dann haucht er nur noch: „Und gar nicht zögerlich." Meine Hand trifft ruckartig in sein Gesicht und erst als er seine Hand von mir nimmt und seine Wange berührt fällt mir auf was ich getan habe. Ich kann nicht klar denken. Adrenalin rauscht durch meinen Körper. Ich spüre wieder den Regen auf meiner Haut, die nasse Kleidung an meinem Körper und die Panik, die wieder in mir hochkommt als mir bewusst wird, dass ich keine Ahnung habe wer vor mir steht. Meine Füße bewegen sich weg von ihm, ich beginne schneller zu laufen, entferne mich immer weiter von der Laterne und dem unheimlichen Fremden. Meine Füße platschen bei jedem Schritt in eine weitere Pfütze, der Regen tropft mir ins Gesicht und ich muss durchgehend blinzeln. Einmal noch drehe ich mich um, um zu sehen ob er mir nachläuft, doch er rührt sich nicht vom Fleck. Schließlich sehe ich nur noch seine Silhouette im Laternenlicht bevor ich um die Ecke biege und mich gegen die Hauswand fallen lasse. Ich habe gar nicht bemerkt wie ich gerannt bin, bis ich auf einmal immer heftiger atmen muss und ich die Kälte mit jedem Atemzug weiter in meine Lunge ziehe. Mir ist eiskalt, meine Hände zittern und sind rot von der Kälte.
In diesem Moment biegt plötzlich mein Vater mit Regenschirm um die Ecke, bleibt kurz stehen als er mich sieht und kommt dann noch energischer auf mich zu als er ohnehin schon gelaufen ist. Oh nein... „Ich wollte-", beginne ich direkt mich zu erklären als er vor mir zum Stehen kommt, doch er schneidet mir das Wort ab. „Du fährst nach Hause, JETZT!" Ich sage nichts, ich folge ihm nur schweigend in die Richtung, aus der er gekommen ist. Von innen durchleuchtete Fenster fallen mir ins Auge. Wir sind wieder am Eingang des Hotels. Mein Blick streift ein letztes Mal die gläserne Front und die Menschen, die dahinter lachen und erzählen. Ein mulmiges Gefühl steigt in meinen Magen. Meine Mutter steht unter einem Regenschirm an unserem Wagen. Ihre Miene verrät, wie wütend sie ist. Andererseits ist das nicht schwer zu erraten. „WO WARST DU?" wettert sie los, während mein Vater die Treppen des Hotels hinaufeilt und hinter der Flügeltür verschwindet. „Du rennst einfach nach draußen, ohne jede Erklärung abzuliefern und lässt uns sitzen? Dein respektloses und unmanierliches Benehmen ist weder zu tolerieren, noch zu entschuldigen, Juliet!" Wild gestikuliert sie mit den Händen während sie mich anschreit. Vor lauter Wut läuft sie rot an. „Mindestens eine halbe Stunde haben dein Vater und ich jeden Winkel nach dir abgesucht..." Ihr wutverzerrtes Gesicht und ihre Lippen formen sich immer wieder zu etwas Neuem, das sie mir an den Kopf wirft. Immer wenn ich kurz denke, dass sie fertig ist und ich etwas zu meiner Verteidigung sagen kann holt sie erneut tief Luft und macht weiter. Aber ich fühle mich nur... benebelt. Total benebelt stehe ich vor ihr und vernehme nur noch den gedämpften Klang ihrer wütenden Worte. Wer war dieser Mann? Ich spüre ein Kribbeln auf meiner Handfläche. Reflexartig ziehen sich meine Finger zusammen. „...Juliet! JULIET!" „Hm?" Auf einmal höre ich sie wieder klar und deutlich. „Juliet wo ist dein Kamm? Er war ein Erbstück deiner Großmutter, Himmel Herrgott nochmal!" Meine Mutter schnauft und schüttelt den Kopf als mein Vater mit meinem Mantel im Arm wieder die Treppe herunterkommt. „Ich habe gesagt, dass ihr schlecht geworden ist und sie nach Hause wollte", verkündet er als sei ich nicht anwesend. Er geht zum Wagen, redet kurz mit unserem Chauffeur und hält mir die Tür auf. „Steig ein." Er drückt mir den Mantel in die Hand und ohne ein weiteres Wort steige ich in den Wagen und er schließt die Tür. Als wir an der Seitenstraße vorbeifahren ist der Fremde mittlerweile verschwunden.
Die ganze Fahrt nach Hause ist nur das Brummen des Motors und der Regen zu hören. Manchmal erwische ich Joe wie er mich mitleidig im Rückspiegel ansieht, doch niemand sagt ein Wort. Als er endlich vor unserer Haustür zum Stehen kommt, ist mein Kopf leer und meine Miene emotionslos. Ich zwinge mir ein Lächeln auf, bedanke mich als er mir die Tür aufhält und renne durch den Regen ins Haus. Völlig ausgelaugt schleife ich mich über den Marmorboden durch unseren Eingangsbereich die Treppe nach oben und gehe in mein Zimmer. Als ich die hohen Schuhe ausziehe und nur noch in der dünnen Strumpfhose über den weichen Teppichboden laufe, spüre ich den Schmerz in meinen verkrampften Fußsohlen. Ich lasse mich vor meinem Frisiertisch auf den kleinen Hocker fallen. Mein Spiegelbild sieht mich an. Es ist genauso enttäuscht wie ich. Enttäuscht von meinen Eltern, dass sie mich behandeln wie ein kleines Kind ohne eigene Meinung, aber auch enttäuscht von mir, weil ich mal wieder kein Rückgrat bewiesen habe, sondern mich stattdessen niedergeschlagen zurückziehe. Kleine Wassertropfen aus meinen Haaren laufen über meine Wange und verfärben sich durch die verschmierte Wimperntusche leicht gräulich. Meine Mutter hat Recht, ich sehe wirklich entsetzlich aus: Die Mascara hat meine Wimpern verklebt und sich unter meinen Augen verteilt. Meine Wangen sind knallrot, meine Augen geschwollen und meine Haare feucht und strähnig. Auf einmal fange ich an zu lachen. Ich kann nicht aufhören zu lachen, so ironisch ist die ganze Situation. Mit dem Reinfall lag ich richtig, doch ich hätte ich nicht mit einem solchen Desaster gerechnet. Langsam erhebe ich mich und gehe zu meinem Plattenfach. Ich brauche Ablenkung. Ich schiebe die Kommode zur Seite, löse die dünne Gipsabdeckung aus dem alten Lüftungsschacht und ziehe Sunshine Superman hervor.
Die Nadel setzt auf der Platte auf und die Klänge der Gitarre entspannen mich direkt beim ersten Ton. „Genieße die Irre, wenn du dich verlaufen hast, Julie. Wenn du weitergehst, bewegst du dich nur im Kreis." Das hat meine Großmutter kurz vor ihrem Tod mit auf den Weg gegeben. Sie war zwar dement und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer sie war, aber in diesem Moment wusste sie, wer ich war. Wer ich wirklich war. Vielleicht hat sie ja recht. Vielleicht fühlt sich ein Irrgarten manchmal wirklich heimischer an als ein Kaminvorleger.
Jeden Tag, jede Minute meines Lebens bin ich von der Lebensweise in dieser Familie umgeben, dass ich fast daran ersticke. Seit ich denken kann wurde ich in die Bilderbuch-Vorstellung meiner Eltern hineingezimmert, sodass ich perfekt hineinpasse, aber doch nicht zu sehr auffalle.
Wie eine Porzellanfigur, die man in einer Glasvitrine einschließt und jede Woche kurz herausholt um sie abzustauben. Hübsch anzusehen und zerbrechlich. Versteinert und gefangen. Unfrei. Als wäre man Unterwasser und würde nur durch einen Strohhalm Luft holen -man bleibt am Leben, kann aber niemals frei atmen.
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Wenn die Espen zittern
Teen FictionEine Geschichte über ein Mädchen aus der Upper East Side der 1960er Jahre- eingesperrt in der Vorstellung ihrer Familie. Ein Fremder, der ihren Weg kreuzt. Ein Zufall, der alles verändern wird und eine zerbrochene Vergangenheit, die sich allmählich...