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Sieben Uhr morgens. Viel zu früh. Viel zu dunkel. Viel zu wenig Lust, diesen Tag zu beginnen. Ich stehe in der Küche, die Ellenbogen auf der marmorierten Arbeitsplatte unserer Kücheninsel abgestützt, mit einer Tasse Tee in beiden Händen und denke über mein Leben nach. Ich habe maximal 5 Stunden geschlafen, nachdem ich mich gestern Nacht auch durch mein Tagebuch nicht ablenken konnte und noch zwei Stunden lang herumgewälzt und die Zimmerdecke angestarrt habe, bevor ich endlich eingeschlafen bin. Ich weiß noch, ich hatte einen seltsamen Traum. Da war ein Mann, eine dunkle Straße und diese drei Worte, die sich immer wieder wie ein Mantra wiederholt haben: Ich sehe dich. Aber alles total verschwommen und verzerrt. Ich weiß noch, ich wollte rennen und schreien aber aus meinem Mund kam kein einziger Ton und ich blieb nur auf der Stelle. Ein schreckliches Gefühl. Ich weiß was das ist und es gefällt mir gar nicht, aber mein Unterbewusstsein scheint da etwas zu verarbeiten. Ich starre durch unsere Terassentüren in den Garten, der noch von einem dunkelblauen Schleier und Tau bedeckt liegt. Es fühlt sich an, als würde die Welt noch still stehen. Müsste ich heute nicht dahin, würde ich es genießen so früh wach zu sein. Aber das vermiest mir total die Stimmung.

"Julie, mein Schäfchen, wieso schaust du so traurig in den dunklen Morgenhimmel hinein?". Louise erscheint plötzlich mit dunkelgrauem Wollmantel und ihrer großen Wundertasche aus Bast im Durchgang von der Diele zur Küche und sieht mich besorgt an. Louise ist unsere Haushälterin. Eine nette ältere Dame, die ein bisschen aussieht wie die Großmutter von Aretha Franklin und schon auf mich aufgepasst hat, als ich noch ein Baby war. "Guten Morgen Louise, geht es dir gut? Wie war dein Wochenende?", frage ich sie um von mir abzulenken. "Ach mein liebes Kind, es war wirklich schön alle meine Kinder und Enkelkinder wiederzusehen. Ich habe New Orleans sehr vermisst, weißt du?" Sie seufzt und stellt ihre Tasche auf der Kücheninsel ab. Dann hält sie inne und zieht ihre Brauen hoch, "aber meine lästernden Schwestern und ihre angenervten Ehemänner hätte ich nicht gebraucht", sagt sie lachend. "Die kleine Breonna ist jetzt sieben Jahre alt... und du bist schon achtzehn Julie!" Sie zieht ihren Mantel aus und läuft in die Diele um ihn an den Garderobenständer zu hängen. Ja, ich bin achtzehn... das ändert leider nichts an der Tatsache, dass ich behandelt werde als wäre ich drei. Frustriert nehme ich einen Schluck von meinem Tee.

Als Louise zurück kommt, bleibt sie vor mir stehen und stemmt die Hände in die Hüften. "Was ist mit dir mein Kind? Du weißt, es gibt Falten wenn man immer so böse guckt." Ich seufze. "Ich schaue nicht böse, Louise. Ich bin traurig und genervt und frustriert und überhaupt habe ich gerade gar keine Lust weiterzumachen." Ich drehe mich um laufe zur Spüle um meine Tasse abzustellen. Inzwischen ist der Tee sowieso nur noch lauwarm. "Was haben sie diesmal getan? Hast du was ausgefressen?" Ein prüfender Blick. Wenn ich nicht wüsste, dass sie mich liebt wie ihre eigene Tochter würde ich Angst kriegen. "Nein. Also ja, vielleicht schon aber es war nicht meine Schuld. Ich hab' sie bei der Veranstaltung am Samstag sitzen lassen." Schockiert reißt sie ihre Augen auf. "Wie? Bist du etwa nicht mitgegangen?" "Doch, doch natürlich. Im Nachhinein weiß ich nicht, ob es schlauer gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. Aber meine Mutter hat vor allen Anwesenden am Tisch behauptet, ich würde die Buchhaltung unserer Firma übernehmen wenn ich mit der Schule fertig bin." Jetzt reißt sie ihre Augen noch weiter auf. Dass das möglich ist... "Jedenfalls hat mich das alles so überrumpelt, da bin ich weggerannt." Die Geschichte mit dem gruseligen Fremden lasse ich mal lieber fürs Erste weg. Mit ihren sanften, braunen Augen sieht sie mich an. Mitfühlend wie immer. "Und jetzt wollten sie es wieder ausbügeln und haben dir noch ein Praktikum auf's Auge gedrückt, habe ich recht?" Sie holt ihre weiße, bestickte Schürze aus der Tasche und bindet sie sich um die Hüfte. Ich sehe zu Boden. "Ja, wie immer. Dabei liegt mir nichts an diesen Leuten. Ich kenne niemanden von ihnen und will das auch niemals. Deshalb ist es mir egal, was sie von mir denken, aber meinen Eltern nicht", antworte ich. Die einzigen, die mir sympathisch waren, sind John Ferell und seine Frau, aber das ist jetzt unwichtig. 

Wenn die Espen zitternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt