Hallo Georgie
Habe ich dir mal etwas Besonderes über mich erzählt? Ich weiß es nicht genau, bestimmt habe ich das. Aber ich erzähle dir jetzt das: Ich liebe die Nacht. Mehr als jeden Tag. Der Tag ist zwar schön, doch je später es wird, umso schöner wird er. Ich habe das Gefühl je später es wird, desto mehr zeigt sich das wahre Gesicht der Zeit. Tagsüber ist alles am Arbeiten und Funktionieren doch nachts, wenn alles schläft bis auf die Nachteulen unter uns, sieht man zur einzigen Tageszeit die Sterne am Himmel. Als würde jemand die Abdeckung einer riesigen Linse entfernen und uns ins Universum blicken lassen. Alles ist still, doch die kleinen Geräusche sind immer da. Geht man nachts über ein Feld oder eine Wiese, hört an nur wie der kühle Wind durch die Bäume und die Grashalme weht. Man hört jeden seiner Schritte, sein Herzklopfen, seinen Atem. Wenn man barfuß über das Gras läuft, spürt man die angenehme Kälte der Erde auf der Haut, man hört die Frösche am Teich und den Wind, der über die Landschaft weht. Es ist dunkel, es ist still, aber es ist auch ruhig und es ist friedlich und nachts lässt die Zeit sich zeit. Jetzt ist die Zeit zum Denken, zum Träumen, zum Sehen, zum Spüren und zum Fühlen. Das ist die Zeit, in der sie scheinbar stehen bleibt. Es ist, als hätte man alle Zeit der Welt. Es ist, als trete man ins Ungewisse, als wäre der Tag das Land und die Nacht das Meer. Scheinbar unendlich.
Manchmal sitze ich nachts draußen, so wie heute. Ich gehe zum Bett, öffne das Fenster, das zum Vordach führt, steige über die Fensterbank aufs Dach und klettere auf den kleinen Vorsprung über dem Zimmer. Noch ein paar Schritte nach oben und ich sitze auf dem höchsten Punkt des Hauses. Heute habe ich nur das schwarze Kleid an, das ich schon den ganzen Tag trage, keine Strumpfhose, keine Socken, keine Jacke, nichs. Ich sitze mit meinen nackten Füßen auf den Dachziegeln über meinem Zimmer und sehe mir die Aussicht an. Die einzige Beleuchtung sind die Straßenlaternen und die Sterne. Kein Auto fährt mehr die Straße entlang, manchmal fliegt ein Vogel durch die Blätter der alten Weide in unserem Vorgarten aber sonst ist es ruhig. Als sähe man klar und zwar alles. Ein Gefühl von Frieden und von Freiheit, das Gefühl, als hätte ich alle Zeit der Welt.
Es ist dunkel, das wenige Mondlicht beleuchtet nur wenig der Felder und Wiesen hinter unserem Haus aber es ist genug, um zu erkennen, welcher Baum und welche Blume wo steht. Als läge ein seichter dunkelblauer Schleier über der Welt. Ein bisschen mystisch, geheimnisvoll aber auch klar und frisch und leicht. Hier habe ich Platz zum Denken, zum Erinnern, und einfach zum Sein und zum Existieren. Es wäre bestimmt vernünftiger mir noch etwas anzuziehen, damit ich mich nicht erkälte, aber wenn ich friere, dann erinnere ich mich daran wie lebendig ich noch bin. Dann merke ich wie verletzlich ich bin. Die Kälte ist wie eine Droge. Sie tut mir weh aber ich brauche dieses Gefühl um nicht zu denken alles an mir wäre betäubt. Sie vertreibt den Nebel, der vor meinen Augen liegt, den Milchfilm, durch den ich die Welt manchmal sehe. Sie sagt 'Wach auf, Juliet! Du darfst jetzt nicht schlafen.'
Und ich brauche das.
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Wenn die Espen zittern
Teen FictionEine Geschichte über ein Mädchen aus der Upper East Side der 1960er Jahre- eingesperrt in der Vorstellung ihrer Familie. Ein Fremder, der ihren Weg kreuzt. Ein Zufall, der alles verändern wird und eine zerbrochene Vergangenheit, die sich allmählich...