Spaghetti ~ Oneshot

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Erschöpft ließ sich Keith auf sein Bett fallen. Die vergangene Schulwoche war für ihn der reine Horror gewesen – sie hatte mit Schwindel begonnen, ging mit unschönen Kommentaren seiner Mitschüler weiter, die sich über seine blasse Haut und die Augenringe lustig machten, und endete mit Nachrichten von seinen „Freunden", die ihm wie so oft abgesagt hatten. Nicht, dass ihn das sonderlich störte; er mochte sie ohnehin nicht sonderlich gerne, was von der anderen Seite wohl erwidert wurde. Aber sich über sein Aussehen lustig machen? Wirklich? Keith wusste, dass es Bullshit war, dass er sich nichts daraus machen sollte, weil er auch nicht wirklich etwas dafür konnte, so auszusehen – nun ja, vielleicht in gewisser Weise schon -, und dennoch tat es weh. Sehr sogar. Er hatte sich das alles ohnehin selbst zuzuschreiben. Noch am Vortag hatte er aufgrund seiner Magenschmerzen und weiteren Beschwerden einen halben Gitfcocktail zu sich genommen, wodurch ihm später so übel wurde, dass er sich hinlegen musste – und dann gleich ausnahmsweise bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen hatte. Hätte Keiths Ziehmutter ihn nicht aufgeweckt, hätte er sicherlich den heutigen Tag auch verschlafen. Dass er sich dies – neben anderen Dingen – tief in seinem Inneren manchmal wünschte, würde er niemals freiwillig zugeben.
Er war noch immer ziemlich müde, entschied sich aber gegen das Schlafen, als er seinen Magen knurren hörte. Er hatte seit dem gestrigen Nachmittag nichts mehr gegessen, deswegen musste er nun wohl auf den Schlaf verzichten. Mit etwas Glück würde er sich später nicht übergeben müssen, je nachdem, wie groß der Anteil der Wirkstoffe der Tabletten noch immer dazu führte, dass sein Magen rebellierte. Also stand er ächzend von seinem Bett auf, schlurfte den Flur entlang zur Küche und öffnete in eben dieser den Kühlschrank. Da er keine sonderlich große Lust hatte, viel zu schneiden – oder überhaupt viel zu essen, holte er passierte Tomaten heraus und entschied sich für Spaghetti. Er schüttete so viele davon aus in den Topf, dass das Essen für zwei Personen ausreichen würde. Während die Nudeln im heißen Wasser vor sich hin köchelten, sah Keith auf seinem Handy nach, ob sich jemand bei ihm gemeldet hatte. Und tatsächlich – neben ein paar Spam-Mails von Internetseiten, auf denen er angemeldet war, entdeckte er ein paar Nachrichten von Shiro.
Takashi - alias „Shiro" - war eine der wenigen Personen, wegen denen er nicht schon längst alles aufgegeben hatte. Keith war der Meinung, dass sein letzter „Versuch" gescheitert war, weil ein Teil von ihm durch Shiro und seine Freunde immer noch Hoffnung hatte. Wenn er im Hier und Jetzt darüber nachdachte, war dieses ganze Geschehen eine sehr, sehr dumme Idee gewesen. Er wusste, dass es keine Lösung war und bemühte sich stets, diese Kenntnis nicht aus den Augen zu verlieren, schließlich gab es noch immer Personen und Dinge, an denen er festhielt. Shiro begleitete ihn beispielsweise bereits seit drei Jahren durch Dick und Dünn, und seit etwa neun Monaten waren sie zusammen. Und selbst wenn sie etwas weiter voneinander entfernt lebten, war er immer für Keith da, wenn dieser jemanden zum Reden brauchte – und umgekehrt.
Er öffnete seine Messenger-App und tippte auf den Chat mit Shiro. Neben ein paar Fotos von Shiros Kater „Stöpsel" – Keith hatte keine Ahnung, wieso es ausgerechnet dieser Name sein musste – kam auch die Frage auf, ob bei ihm alles in Ordnung sei. „Oh, Shit.", flüsterte Keith. Er hatte völlig vergessen, seinem Freund Bescheid zu sagen, dass (und warum) er so lange weg gewesen war. Als er gerade zum Tippen ansetzen wollte, erschien eine neue Nachricht auf dem Bildschirm: „Hey, alles okay? Ich rufe dich gleich an."
Keith musste etwas schmunzeln. Es war egal, wie oft er Shiro klarmachen wollte, dass er zurechtkam und man sich nicht so sehr um ihn sorgen musste, Shiro kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, ob etwas los war.
Keith stellte schnell eine der Herdplatten ab, da die Nudeln bereits fertig waren, und goss das Wasser ab. Sein Handy vibrierte gerade, als er einen Deckel auf den Topf mit der Tomatensoße legte, um diese warmzuhalten, bis es Essen gab.
Schnell griff er nach seinem Handy, das er vor dem Kochen in der Bauchtasche seines Hoodies hatte verschwinden lassen. Er nahm den Anruf an und hielt sich das Gerät ans Ohr. „Hey!", sagte Keith hastig, während er zwei Teller aus dem Schrank über ihm auf seiner freien Hand balancierte und diese auf der Arbeitsfläche neben dem Herd abstellte – oder abwarf, denn es klapperte ziemlich.
Am anderen Ende der Leitung hörte man ein tiefes Kichern. „Kommt Elaine heute früher nach Hause oder bist du wegen mir so aufgeregt?", neckte Shiro seinen Freund und lockte aus diesem sogleich ein leises Lachen hervor. Als dieses abgeklungen war, räusperte sich Keith und setzte zur Antwort an: „Nicht, dass ich wüsste. Es ist nur schwer, gleichzeitig zu telefonieren und darauf zu achten, nicht das ganze Geschirr zu zerstören."
Vielleicht hatte Keiths eher weniger humorvolle Antwort die Stimmung etwas gekippt, aber Shiro schien das nicht zu stören, denn sie führten ihr Gespräch ganz normal weiter. Er fragte Keith nach seinem Tag und besagter Junge konnte nicht anders als sich alles, was in letzter Zeit passiert war, von der Seele zu reden. Er berichtete von seinen Magenschmerzen, den blöden Kommentaren seiner Klassenkameraden und schlussendlich vom gestrigen Geschehen. Er stellte sich vor, wie sich Shiros Stirn deswegen in Falten legte, weil er sich schon wieder Sorgen um ihn machte. Eigentlich wollte er ihn damit nicht noch mehr belasten.
Shiro hörte ihm aufmerksam zu und sprach erst wieder, als Keith fertig war. „Hey. Du weißt, dass Leute echt bescheuert sind. Aber es ist bald vorbei. Nur noch dieses Jahr, dann hast du es geschafft. Du musst sie dann nie mehr wiedersehen. Oder hören.", versuchte er Keith aufzumuntern.
Dieser brummte nur zustimmend. Shiros Worte zauberten ihm zwar ein Lächeln ins Gesicht, es wurde aber schnell zu einem traurigen, da er bemerkte, wie sehr er seinen Freund eigentlich vermisste. Seit Wochen hatten sie sich nicht mehr gesehen, da immer etwas dazwischen gekommen war. Nicht einmal skypen konnten sie, da Keith momentan viele Klausuren schrieb und sich mehr auf diese konzentrieren musste. Er seufzte leise.
Als würde Shiro spüren, was Keith gerade auf dem Herzen lag, stellte er Keith eine Frage, die ihm die nächste Zeit deutlich verbessern könnte: „Was hältst du davon, wenn ich dich nächstes Wochenende besuche?"
Erst etwas verdutzt glucksend – hatte Shiro gerade seine Gedanken gelesen? -, dann erfreut stimmte er der Idee zu. „Solange Mum nichts dagegen hat, klar.", erwiderte der Jüngere der beiden, „Aber sie liebt dich, deswegen sollte das kein Problem sein." Keith war sich sehr sicher, dass sein Gesprächspartner in diesem Moment rot wurde. Ein schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, welches nach kurzer Zeit jedoch unstabiler wurde, da er sich wegen einer Sache noch unsicher war. Er räusperte sich kurz und fragte daraufhin zögerlich: „Bist du dir sicher, dass du extra fünf Stunden herfahren willst?" Als Antwort erklang Shiros durchaus entsetze und überheblich dramatische Stimme. „Natürlich will ich das! Was ist das für eine Frage?", quietsche er und Keith musste grinsen. Am anderen Ende der Leitung räusperte man sich und das gebrummte „Keine Widerrede." klang schon deutlich besser – eventuell ein wenig harscher, als es geplant war, aber überzeugend.
„Shiro? Ich esse gleich, meinst du, wir können später nochmal reden? Am Computer?", warf Keith ein und wartete auf das, was sein Freund erwiderte. Dieser war für ein paar Sekunden still und lehnte dann – ganz zu Keiths Enttäuschung – ab. „Ich wurde für heute Abend auf ein Familienessen „eingeladen", davor kann ich mich leider nicht drücken.", jammerte Shiro. Keith wusste, dass Familientreffen bei den Shiroganes immer etwas chaotisch waren. Denn wenn sich seine Familie versammelte, waren wirklich alle da, mitunter seine zwei Nichten – Zwillinge – die ihn zu allem und jedem ausfragten und jedes Mal bis zum Schluss an ihm klebten. Er lachte. „Na dann viel Spaß. Richte Hana und Hanami schöne Grüße aus!", ärgerte er ihn und rief ein genervtes Stöhnen seitens Shiro hervor. „Ja, den werde ich definitiv haben.", erwiderte er monoton. Beide lachten, und als ihr gemeinsamer Lachanfall abgeklungen war, verabschiedeten sie sich mit einem sanften „Ich liebe dich."
Nachdem Keith sein Handy wieder in seinem Pullover verstaut hatte, holte er zwei Kellen aus einer Schublade und machte sich daran, eine kleine Portion Spaghetti auf seinen Teller zu laden. Er hatte sich gerade Soße auf den Teller geschöpft und sich Besteck geholt, als er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Kam Elaine heute etwa doch früher nach Hause? Normalerweise war sie nie vor Siebzehn Uhr da, weswegen Keith in diesem Moment ein wenig perplex in der Küche stand. Er drehte sich also zurück zur Arbeitsfläche und bereitete für seine Ziehmutter auch einen Teller vor. Wenigstens musste das Essen abends dann nicht mehr aufgewärmt werden und konnte komplett frisch gegessen werden.
Er hoffte nur, dass sie nicht fragen würde, wie es ihm ging. Zumindest nicht jetzt gleich, da Keith sich erst einmal wieder beruhigen musste – was bei ihm meistens etwas länger dauerte. Es fiel ihm außerdem schwer, unter vier Augen über seine Probleme und negativen Gedanken zu sprechen – besonders bei unvertrauten Personen; selbst bei seinem Therapeuten klappte es nicht immer. Ein schlechter Lügner war er dazu auch noch. Keith seufzte und machte sich daran, zumindest einen etwas freundlicheren Gesichtsausdruck aufzusetzen – wobei das eigentlich nicht nötig war, da seine Ziehmutter ihn ziemlich gut verstand und es auch nicht schlimm fand, wenn er keine allzu gute Laune hatte. Sie würde ihn bestimmt nicht dazu zwingen, über irgendetwas zu reden, wenn er sich dadurch nur unwohl fühlen würde.
Als er das Essen fertig auf dem Tisch angerichtet hatte, begab Keith sich in den größeren Flur der Wohnung, um Elaine zu begrüßen. Da es an diesem Tag aber recht dunkel draußen war, fiel nicht genug Licht in den Flur, weswegen Keith sich nochmal umdrehte, um das Deckenlicht anzuschalten.
Eben noch näherten sich ihm schwere Schritte – seit wann tapste Elaine denn so? -, als sich auf einmal kalte Hände über seine Augen legten.
Keith erschrak und kreischte, riss daraufhin die Hände von seinem Gesicht, drehte sich um und – und blieb wie angewurzelt stehen. Sein Hirn verarbeitete die auf ihn zufliegenden Informationen. Sah er das gerade wirklich oder bildete er es sich nur ein? In ihm breitete sich ein wohlig warmes Gefühl aus, fast schon ein Kribbeln.

Vor ihm stand nicht seine Mutter. Es war Shiro.

Spaghetti ~ Sheith OSWhere stories live. Discover now