Magie des Schnees

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Draußenvor dem Fenster tropfte das Wasser von den kahlen Zweigen und imGarten eines Nachbarn blinkte ein kitschiges Rentier durch dieaufziehende Dunkelheit. Skadi lehnte ihren Kopf gegen dieFensterscheibe und seufzte. Noch nie war die Stimmung vor Heiligabendso wenig weihnachtlich gewesen wie dieses Jahr. Seit zwei Wochenregnete es in einem fort, die Temperaturen stagnierten bei fünfGrad, sodass sie die Hoffnung auf Schnee schon lange aufgegebenhatte, und ihre Oma aus Norwegen war dieses Jahr auch nicht zuBesuch. Skadi vermisste ihre Kindheit. Früher war ihre Familiemorgens immer in den Wald gefahren, um dort einen Baum für die Tierezu schmücken, danach wurde der Christbaum zu Hause geschmückt, undwenn es dann dunkel war, sangen sie Weihnachtslieder und aßenPlätzchen, bevor Skadi ihre Geschenke auspacken durfte. Aber heutemusste ihr Vater Torge morgens etwas erledigen, weshalb ihre MutterMarina sauer gewesen war und ihm Vorwürfe gemacht hatte, dass er zuviel arbeite und sich keine Zeit mehr für die Familie nehmen würde.

Nachdenklichzupfte Skadi ihre Stulpen zurecht. Wenn sie so darüber nachdachte,fiel ihr auf, dass ihre Eltern sich in letzter Zeit häufigerstritten als normal: darüber, wer zu wenig im Haushalt machte oderwer zu wenig Zeit hatte, und zu guter Letzt gaben sie sichgegenseitig die Schuld daran, dass ihre Tochter schlechter in derSchule geworden war und zugenommen hatte. Skadi donnerte ihren Kopfgegen das Glas. Anderen konnte es doch wohl egal sein, wie sieaussah. „Du kannst runterkommen, der Kakao ist gleich fertig!",rief Marina von unten. „Ich komm gleich", antwortete sie undrutschte von der Fensterbank. „Positiv denken, der Abend wirdschön", sprach sie sich selbst Mut zu und holte drei Päckchen ausihrem Kleiderschrank.


„...Engel sind hereingetreten,
Kein Auge hat sie kommen seh'n,
Siegehn zum Weihnachtstisch und beten,
Und wenden wieder sich undgeh'n."


DieFamilie beendete das letzte Lied. „Fröhliche Weihnachten, meineGroße", sagte Torge und schloss das Mädchen in die Arme. „FrohesFest", wünschte auch Marina und umarmte alle beide. Schon warSkadi ein bisschen leichter ums Herz, die Stimmung war gut undfriedlich und ihre Mutter strahlte glücklich, als sie alle zusammenam Tisch saßen und das Hutzelbrot lobten, das sie zum ersten Malausprobiert hatte. Mit einem Kribbeln im Bauch schaute Skadi zu denGeschenken unter dem Baum. Egal wie alt sie war, Überraschungenwürde sie immer lieben. „Na geh schon" ,meinte ihre Mutter einwenig genervt, „Ist ja nicht auszuhalten, wie du auf deinem Stuhlumher rutschst." „Lass sie doch", mischte sich Torge ein, „siefreut sich doch nur." „Diese Ungeduld macht mich wahnsinnig,Weihnachten sollte entspannt sein und außerdem geht es nicht nur umdie Geschenke. Mir geht dieser ganze Konsum in dieser Jahreszeit soauf die Nerven. Es geht nur noch darum möglichst große und teureGeschenke zu bekommen und zu kaufen. Die Leute sollten sich lieberdirekt miteinander beschäftigen, sich unterhalten, spazieren gehen,was man in der Adventszeit halt macht." „Du hast Recht, Mama. Ichfinde auch, dass die Geschenke nicht das Wichtigste sind. Und esmacht mir auch nichts aus zu warten, bis du auch bereit bist. DiePlätzchen sind nämlich wirklich lecker", versuchte Skadi dieSituation zu retten. „Ach nein, ist schon gut, tut mir leid,Skadi", entschuldigte Marina sich, „mir hat nur dieseVorweihnachtszeit so zu schaffen gemacht, ich halte keine Hektik mehraus. Aber Torge und ich sind glaube ich sowieso gleich fertig, lassuns noch unseren Tee austrinken, dann setzen wir uns zusammen unterden Weihnachtsbaum."



Nachdemsie ihren Eltern ihre Geschenke gegeben hatte, besah sie die Gabenunter der Tanne genauer. Als erstes fiel ihr ein kleines Päckchenauf, dessen Papier so auffällig und bunt war, dass es nur von ihrerOma kommen konnte. Neugierig streifte sie die Paketschnur ab undfaltete die Verpackung auseinander. Ein kleines Döschen aus Holz kamzu Vorschein, und als sie auch das öffnete, erblickte sie einenschwarzen Stein, der an einem Lederband hing. Ihr Vater drückte ihreinen Kuss auf die Wange und lenkte sie von der Dose und ihrem Inhaltab. „Woher wusstest du, dass ich das Buch noch nicht kenne?"„Weil die Bücherei es nicht hat und du auch nicht", grinste sieihn an und wandte sich dann wieder der Kette zu. Der Stein war nichteinfach nur schwarz. Weiße Flocken waren über die Oberflächegesprenkelt. „Die ist ja schön, vielen Dank Skadi!", freute sichihre Mutter, als drei Knäuel Wolle aus dem Geschenkpapier rollten.„Ich hab die Frau aus dem Laden gefragt, was sie mir für dichempfiehlt und dann hat sie erzählt, dass du letztens da warst undnach Sockengarn gefragt hast und sie danach noch eine neue Lieferungbekommen hat. Ich dachte, dass dir die Farbe bestimmt gefällt."„Das tut sie, und wie! Mich juckt es gerade total in den Fingern,direkt anzufangen", sagte Marina. „Nein, warte, ich hab doch nochein Geschenk für euch beide", meinte das Mädchen und holte dasdritte Päckchen unter den Zweigen hervor. „Bitteschön, ich hoffeihr mögt es." Torge zerschnitt vorsichtig mit einer Schere dieKlebestreifen und schlug das Papier zurück. Auf der ersten Seitestand mit Goldstift: »Für Mama und Papa, in Erinnerung an einenwunderschönen Urlaub, eure Skadi« und dann folgten Fotos, die dieFamilie in den Bergen zeigten oder den Steinbock, der an einem Abendbei der Hütte aufgetaucht war. „Das ist wundervoll", bedanktesich ihr Vater und zog sie in eine Umarmung. „Oh, zeig mal, ist dasdas Geschenk von meiner Mutter?" wollte er wissen, als er die Ketteentdeckte, die Skadi immer noch in der Hand hielt. „Ja, schön,oder?" Auch Marina beugte sich jetzt vor, um sie zu begutachten,„Ich glaube der Anhänger ist aus Obsidian. Da hat sie mal wiederwas wirklich schönes gefunden, deinen Oma. Komm, ich leg sie dirum", sagte sie und schob die zwei Knoten zusammen, sodass die Kettelänger wurde und hängte sie ihr dann um den Hals. „Hast du unserGeschenk noch gar nicht aufgemacht?" fragte sie als nächstes.„Dazu bin ich noch nicht gekommen, warte", sagte Skadi, „Ist esdas hier?" Und zog einen Umschlag unter einem Päckchen hervor, dassehr nach einem Buch aussah. Torge nickte und sie öffnete den Brief.Auf der Karte, die sie daraus hervor zog, stand »Gutschein für eineReise nach London« Sie hob verwirrt den Kopf: „Ihr kommt nichtmit?" Es war schon lange Tradition, dass sie ihr Weihnachtsgeschenkin Form eines Gutscheins bekam denn Reisen konnte man anders schlechtverschenken. „Wir wissen, dass wir früher immer zu drittweggefahren sind, aber wir sind der Meinung, dass du jetzt alt genugbist, um auch mal alleine oder mit einer Freundin wegzufahren. Dasist bestimmt viel cooler, als mit deinen alten Eltern. Außerdem hatTorge wahrscheinlich das ganze Jahr viel zu tun und wenn ichmitkommen würde, müsste er auch mit." „Tut mir leid, Skadi,aber ich habe in letzter Zeit so viele Aufträge bekommen, ich binschon glücklich, wenn ich mir für unseren Sommerurlaub zwei Wochenfrei nehmen kann." Sie schluckte. So war das wohl, wenn man großwurde – alles veränderte sich. Sie hörte den Regen wieder gegendie Scheibe prasseln und wünschte sich in dem Augenblick nichtssehnlicher, als dass wenigstens wie früher Schnee liegen würde undsie am nächsten Morgen draußen zusammen toben würden. Sie fasstean den Anhänger, der kühl um ihren Hals hing und betrachtete dieweißen Flecken, die sie an Schneeflocken erinnerten, die im gelbenSchein einer Laterne tanzten. Sie betrachtete den geschmückten Baum.Wenigstens der sah noch so aus wie früher. Während sie nach einemweiteren Geschenk griff, zog Marina die Vorhänge zu und setzte sichdann neben Torge auf das Sofa. Ihr Vater hatte schon angefangen indem Buch zu lesen, das Skadi ihm geschenkt hatte und seine Frauvertiefte sich in einen Brief ihrer besten Freundin. Skadis andereOma schenkte ihr einen selbstgestrickten Pullover, den sie gleichüberzog. Sie mochte dicke Pullis. Irgendwann setzte auch sie sichmit einem neuen Märchenbuch in einen Sessel und überbrückte so dieZeit bis zum richtigen Abendessen, bevor sie dann alle zusammen inden Mitternachtsgottesdienst gehen würden.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 09, 2018 ⏰

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