Kapitel 4

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Müde saß ich neben London im Bett und rieb mir die verschlafenen Augen. Ich hatte erst gegen vier Uhr morgens einschlafen können, als ich mir sicher war, dass sie keine weiteren Alpträume bekam. Sie sah so wunderschön aus. Ihr rosafarbenes Haar lag wirr um ihren Kopf herum, ihr dünner Körper hatte sich eingekugelt, wie ein Igel, der Angst vor seiner Umwelt hatte. Ihre wunderbaren Gesichtszüge, die sich das erste Mal entspannt hatten, seit ich sie kannte.

Ich strich ihr durchs Haar, es war kaputt, ich spürte den Spliss an meinen Fingerkuppen. 

Ich seufzte und stand auf, kochte mir einen Kaffee, den ich eigentlich gar nicht mochte und schrieb ihr einen Zettel mit meiner Adresse in Georgia, legte ihn gut sichtbar auf den Küchentisch und verschwand dann, ohne sie zu wecken.

Unten angekommen zog ich meinen Blackberry aus der Hosentasche und versuchte Noël zu erreichen, aber wie er nunmal war, ging nur die Mailbox dran und auf Kotzen hatte ich eh keine Lust. Also schrieb ich stattdessen Jake eine SMS, dass er mich gefälligst abholen sollte.

Die Antwort kam prompt: ~Bin in 20 Minuten da, Schätzchen.~ Haha, verarschen konnte ich mich alleine, aber tatsächlich stand der Mietwagen zwanzig Minuten später vor mir und Noël grinste mich vom Beifahrersitz aus schelmisch an. "Na, hast du wieder keine abgekriegt, Salem?" Ich schüttelte nur den Kopf und stieg in den Wagen ein. Hoffentlich hatten sie meinen Koffer mitgenommen, den beiden traute ich alles zu.

Am Flughafen angekommen schnappte ich meinen Koffer und sah auf das Ticket. Wohin ging es denn als nächstes? Georgia? Schade, die Rundreise war schon vorbei. Leicht seufzend gab ich mein Gepäck auf und setzte mich dann mit meinen besten und irgendwie auch einzigen Freunden in einen Starbucksschuppen, wo ich nur einen Tee trank.

"Ey, No, guck mal da, heiße Schnitte auf sechs Uhr." Er meinte wohl Sex Uhr, dieser Möchtegern-Frauenheld. Ich sah Noël vielsagend an und direkt im nächsten Moment knuddelten wir Jake so heftig, dass dieser kaum noch atmen konnte und das Mädels aufreißen für einen Moment vergaß.

Ich liebte die beiden, ja wirklich, sie waren die besten Freunde, die man sich wünschen konnte und ich war ihnen für jeden Moment dankbar. Lächelnd schlürfte ich meinen Tee und zog die Beine an, machte mich klein, weil mir vor Müdigkeit echt kalt war. Ich lehnte meinen Kopf an Noëls Schulter und schlief schon beinahe ein, als er aufstand und sich zum Gate begab, da unser Flug gerade ausgerufen worden war.

Schlurfend und dauergähnend kam ich hinter den beiden her und stellte mich in die Schlange, die sich vor dem Einlass gebildet hatte. Ich wollte doch einfach nur noch in dieses doofe Flugzeug steigen und ein bisschen schlafen. Selbst Jake schlief fast ein und ihn kaputt zu kriegen war schon eine echte Leistung, für die sich Noël natürlich gleich die Lorbeeren einheimste und ihm sein Handy aus der Tasche klaute und ihn im Halbschlaf fotografierte.

Wir waren alle ein bisschen albern, besonders wenn wir müde waren, aber so war das Leben nunmal. 

Als wir dann endlich im Flieger saßen, schnallte ich mich an, zog meine Sneaker aus und vergrub mich unter einer Decke, die auf dem Sitz gelegen hatte und fiel noch vor Start der Maschine in einen erholsamen Schlaf, der mit allerlei Träumen von Wattewölkchen, rosa Haaren und Instant-Kaffee gefüllt war.

~

Zwei Stunden - für mich gefühlte acht - später wachte ich wieder auf und bemerkte, dass beinahe alle um mich herum schliefen, also schnappte ich mir kurzerhand Noëls iPod und hörte eine Weile Musik, blätterte im Bordmagazin und betrachtete, wie die Sonne am Himmel strahlte, als gäbe es keinen Herbst. Nicht mehr lange, dann würden wir landen, so weit war es schließlich nicht mehr.

Ich dachte an die letzte Nacht zurück; an London, das 'ShyGents', ihre Alpträume. Ich hatte sie nicht gut genug kennengelernt, um ein Urteil über sie zu fällen, alles was ich wusste war, dass sie anders war. Gut anders, aber anders. Mit einem versteckten Lächeln im Gesicht fuhr ich mir durch das dunkelbraune Haar und meine Gedanken setzten sich fort.

Ihr Alptraum hatte von einer Person gehandelt, dessen war ich mir ziemlich sicher, aber eigentlich ging es mich ja auch überhaupt gar nichts an. Ich lehnte den Kopf wieder an Noëls Schulter und hing noch einige Zeit meinen Gedanken nach, bis meine Sitznachbarn aufwachten und wie hungrige Wölfe über das Essen herfielen, das vor ihnen stand. 

Oh, mich hatte man wohl übergangen, oder vergessen, oder was weiß ich, auf jeden Fall hatte ich kein Essen bekommen, obwohl ich auch ziemlichen Hunger hatte. Gnädigerweise gab Noël mir ein paar Bissen ab und dann landeten wir auch schon wieder. 

Ich freute mich auf Zuhause, auf mein weiches Bett, auf meinen Kater, auf meine Familie. Beim Gedanken an Mums Freudentränen, die immer in ihre Augen traten, wenn ich nach Hause kam, stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen und mir wurde warm ums Herz. Sie alle behandelten mich so gut. Ich hatte nie das Gefühl, ich würde mit meiner Störung irgendwie ihrem Ruf schaden oder so etwas, was man aus billigen Groschenromanen kannte. 

Das autistische/behinderte/wasauchimmereshat Kind wird zwar von seinen Eltern geliebt, aber weil die Eltern so reich sind und so einen guten Ruf haben verstecken sie es/geben sie es weg/versuchen sie es umzubringen/behandeln sie es schlecht. Dann ist das Kind erst ganz traurig, bis es dann die Liebe seines Lebens kennenlernt und dann ist irgendwann alles wieder Friede Freude Eierkuchen Törtchen Waffel Pfannkuchen. So war es bei uns nicht. Wir waren eine ganz normale mittelständische Familie, die ganz gut über die Runden kam und viel zusammen unternahm. 

Bis ich zum College gegangen war, hatten wir jedes Wochenende einen Familienausflug gemacht, was meistens irgendwas mit Sport bedeutete. Wir waren alle verrückt danach uns zu bewegen und auszutoben. 

Mein Dad war früher, als die Dinos die Erde noch bevölkerten, also vor dem Fall, der ja nach dem Hochmut kommt, Basketballspieler gewesen in einem sehr erfolgreichen Uni-Team, Mum hatte bis sie älter als vierzig war Volleyball gespielt und war eine gute Schwimmerin, meine Schwester hatte das Reiten für sich entdeckt und ich focht seit ich drei war mit dem Degen und kletterte für mein Leben gern.

Noël, Jake und meine Wenigkeit stiegen aus unserem Flugzeug aus, hievten unsere Koffer vom Paketband und kamen in die Ankunftshalle. Wir erwarteten niemanden, Jakes Auto stand seit drei Monaten auf dem Flughafenparkplatz, aber etwas großes mit wehenden dunkelbraunen Haaren stürmte auf mich zu und umarmte mich so fest, dass ich beinahe hintenüberkippte. Ich lachte und pflückte Eras Haare aus meinem Mund, löste sie von mir und strahlte dann meine Eltern an, die Jake und Noël bereits in Empfang genommen hatten und nun eine Kuscheleinheit mit ihrem Ältesten verlangten. 

Nur zu gern kam ich diesem Wunsch nach und umarmte die beiden fest. Sie waren so verdammt cool. Sie hatten mir die Rundreise ermöglicht, finanziert und hatten uns beim Organisieren geholfen, sie wollten nur das Beste für mich und das merkte man auf den ersten Blick. Genau wie die Tatsache, dass wir eine Familie waren. 

Ich war das Ebenbild meines Vaters, bis auf die Tatsache, dass ich etwas schmaler war und nicht rothaarig. Das Gesicht war komplett gleich, die gleichen Augen, die gleiche Nase, der gleiche Mund. Selbst die Bartstoppeln waren gleich, nur dass Dads einen grauen Stich hatten. 

Lächelnd wischte Mum sich die Freudentränen aus dem Gesicht und zog dann Noël und Jake hinter sich her zum Auto. Mit Mum konnte man nicht diskutieren, die beiden würden wohl mit zu uns fahren müssen und sich hinten in den Touran quetschen, da Era fahren sollte, ich zu groß war und zu lange Beine hatte, genau wie Dad und Mum nicht hinten sitzen konnte, weil ihr da immer schlecht wurde.

Ich grinste die beiden an, als ich auf die normale Rückbank kletterte, Dad in der Mitte und Noël auf seiner anderen Seite, Jake ganz hinten, weil er von uns allen der kleinste war. 

NightcallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt