Berlin ist die einzige Stadt Teil 1

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Letztens fand ich ein ururaltes Notizbüchlein, und darin standen Notizen, aber auch Telefonnummern von Leuten, die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Es war ein interessantes Büchlein, wenn auch ein wenig verwirrend, zum Beispiel der hingekleckste Eintrag: „fahren gleich nach drüben“...

Der nächste Eintrag war seltsamerweise mit Lippenstift geschrieben und deswegen rot und ziemlich groß geraten:

„TEESTUBE GUT,

K. KENNENGEL.“

Ich dachte wirklich angestrengt darüber nach, bis sich die Schleier der Vergangenheit ein wenig hoben. Diese Einträge mussten aus den Jahren 1967 oder 1968 stammen.

Ich war zu dieser Zeit zweimal in Berlin, Tschuldigung, damals hieß es natürlich noch Westberlin. Einmal im Winter zu einer Demonstration und einmal im Herbst mit einer Freundin. Aber was hatten die kryptischen Lippenstiftaufzeichnungen zu bedeuten?

Es war mühsam zu rekonstruieren, aber mittlerweile habe ich herausgefunden, dass die Demonstration nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg (die Kommilitonen redeten von Ermordung) stattfand, und es muss im Winter 1967/68 gewesen sein.

An die Demonstration selber kann ich mich kaum erinnern. Zu dieser Zeit war ich in einem Club Mitglied, der ein wenig (hahaha) links orientiert war. Ich war aber nur nebenbei dort, denn die Jungs waren nicht übel... Nee, was bin...äääh war ich für ein oberflächliches Ding.

Fast alle Mitglieder des Clubs hatten regen Kontakt zu Leuten in der Ostzone. Genau, Ostzone! Niemand nannte die DDR „DDR“, man nannte sie höchstens „sogenannte DDR“. Aber das waren schon richtige Linke, die so etwas taten – oder Geschäftsleute... Gemeinhin wurde dieses fremde Land als SBZ bezeichnet, und das hieß so viel wie: Sowjetisch Besetzte Zone. Und die war so weit entfernt und unerreichbar, als läge sie in einer anderen Galaxis. Aber Westberlin - eine kapitalistische Enklave mitten im sozialistischen Umfeld der „SBZ“ – konnte man als Westdeutscher (und somit als Bürger des one-and- only-state) gut erreichen.

Wir fuhren also nach Westberlin, um an dieser Demonstration teilzunehmen. Wir fuhren mit einem Bus hin, und wir dachten alle, wir wären die Guten. Wir waren ja schließlich Sozialisten und links und überhaupt - was sich an der Grenze aber ganz anders darstellte.

Man ließ uns aussteigen, und wir mussten uns in einen kleinen Raum begeben, der mit Holzbänken ausgestattet war und der fürchterlich nach Desinfektionsmitteln stank (das vermuteten wir jedenfalls). Man ließ uns zwei Stunden dort sitzen, bis alle Formalitäten abgewickelt waren, unter anderen mussten wir einen Fragebogen ausfüllen, warum, weshalb und wieso wir nach Westberlin wollten, obwohl die Penner doch sicher wussten, warum weshalb und wieso wir dorthin wollten.

Aber endlich ging es doch weiter. Es war Winter, und es gab nichts Trübsinnigeres als diese Autobahn, die gleichzeitig auch die Transitstrecke nach Westberlin war. Man fühlte sich sehr allein und einsam. Weit und breit war kaum anderes Auto zu sehen, und wenn dann waren es natürlich welche aus der BRD (Bundesrepublik Deutschland), die sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielten. Man hatte wohl schon davon gehört, dass zu schnelles westdeutsches Fahren eine der wichtigsten Devisenquelle des ostdeutschen Staates war, abgesehen von gewissen anderen.

Aber diese verlassene Autobahn war auch schön, die Sonne schien, es war lausig kalt draußen, das spürte man, denn die Kälte zog durch die Ritzen des Busses hinein und machte kalte Füße, aber draußen zogen Birkenwälder mit raureifbedeckten Ästen an uns vorbei, und der Himmel strahlte in einem blassen Blau. Doch, es war schön, eintönig zwar und einsam, aber schön.

Auf dem letzten Stück vor der Einfahrt nach Westberlin war die Autobahn durch Panzer gesichert, die QUER an ihrem erhöhten Rand standen, und diese Panzer machten einen sehr bedrohlichen Eindruck. Sie hätten bloß losrollen müssen, dann hätten sie jedes Fahrzeug zerquetscht...

Egal, Westberlin!

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