Kapitel 4

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Nein. Nein. Nein. Das konnte nicht wahr sein!

Neben ihr begann Mutter unkontrolliert zu zittern.

Nicht Easton. Er durfte nicht sterben!

Vaters Gesicht war eine ausdruckslose Maske.

Bestimmt hatte Alessia den falschen Namen gelesen. Ja, so musste es sein.

„Irgendwelche Freiwillige?", schallte die schrille Stimme durch das Mikrofon.

Jetzt würde gleich jemand nach vorne stürmen. Ganz sicher.

Doch es blieb ruhig.

„Nun gut. Dann sind das unsere Tribute für die 62. Hungerspiele. Applaus für die beiden mutigen Herrschaften, Annabell Gray und Easton Cresta!"

Nur vereinzelt klatschten Leute, um sich herum konnte sie viele erleichtert aufatmen hören. Neben ihr schluchzte Mutter nun endgültig, Vater hielt sie im Arm und murmelte ihr beruhigend zu, doch auch er sah geschockt aus und rang offensichtlich um seine Fassung.

Das Mädchen versuchte stark zu sein. Für Easton musste sie das jetzt sein! Sie wusste, gleich durften sie ihn verabschieden gehen, und da würde es ihm bestimmt nicht viel helfen, wenn sie alle drei weinten.

„Komm mit, kleine Meerjungfrau", erklang die Stimme von Vaters jetzt neben ihr. Noch immer hatte er Mutter im Arm, und so bahnte er sich einen Weg durch die Menge, das Mädchen trippelte mit gesenktem Kopf hinter ihm her.

Da war die Ruhe plötzlich vorbei. Sie waren nun entlassen, und alle stürmten zu ihren Kindern, Geschwistern, Verwandten und Freunden, und langsam verstanden die Leute, dass nichts geschehen war. Ein weiteres Jahr hatte die Ernte sie verschont.

Das Mädchen blickte nach vorne zu Vater. Aber da war weder Vater, noch Mutter. Nur unbekannte Leute konnte sie sehen. Ängstlich drehte sie sich ein paar Mal um sich selbst, doch sie konnte kein bekanntes Gesicht erkennen, sogar die Bails waren verschwunden.

Sie begann in eine Richtung zu laufen, in der sie das Justizgebäude erwartete, doch da war es nicht. Durch die vielen Menschen hatte sie die Orientierung verloren, sie sah nichts außer unbekannten Familien, die sich glücklich umarmten.

Langsam geriet sie in Panik. Wenn sie weder ihre Eltern, noch das Justizgebäude fand, dann konnte sie sich nicht von Easton verabschieden. Er würde sterben, ohne dass sie noch einmal mit ihm gesprochen hätte. Nun begannen doch Tränen über ihr Gesicht zu laufen.

„Dad!", schrie sie so laut sie konnte, „Dad! Mum! Wo seit ihr?" Doch niemand antwortete ihr. Die Leute um sie herum waren viel zu glücklich, als dass sie auf das kleine, weinende Mädchen geachtet hätten, das da nach ihren Eltern rief. „Dad!" Wieder keine Antwort.

Langsam lehrte sich der Platz, und immer noch hatte sie die beiden nicht gefunden. Bestimmt waren sie schon im Justizgebäude, verabschiedeten sich von Easton und wunderten sich, wo ihre kleine Tochter geblieben war.

Schluchzend setzte sie sich an Ort und Stelle auf den Boden. Sie weinte nun so sehr, dass ihre Sicht ganz verklärt war. Plötzlich merkte sie, wie sich jemand neben sie auf den Boden hockte. „Wer bist du denn?", fragte eine scheinbar weibliche Person mit angenehmer Stimme. Verwirrt blickte das Mädchen auf und konnte eine hübsche Frau erkennen, die ihr jetzt mit einer Hand über den Rücken streichelte. „Beruhige dich, alles ist gut."

Langsam hörten die Tränen auf. Sie sah die fremde Dame mit großen Augen an. „Wieso sitzt du denn hier alleine auf dem Boden?", wurde sie gefragt. Ein letztes Mal noch schniefte sie, dann erzählte sie: „Mein Bruder ist gezogen worden, ich wollte ihn mit meinen Eltern verabschieden, aber plötzlich sind sie verschwunden und..." Das Mädchen begann wieder zu weinen. Zögerlich legte die Frau ihre Arme um sie herum, was ihr nur recht war. Sie brauchte jetzt jemanden, der sie festhielt, das machte Vater auch immer, wenn sie traurig war, und es half ihr sehr.

Kleine MeerjungfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt