Kapitel 7

21 0 0
                                    


~3 Jahre später~

Wieder einmal stand sie auf dem großen Platz, doch diesmal hatte sie zum ersten Mal zu bangen, dass sie gezogen werden könnte. Jetzt stand sie nicht mehr in Sicherheit am Rande des Marktplatzes, sondern in Mitten des Geschehens, zusammengepfercht mit allen anderen Jugendlichen. Doch ihre Sorge galt nicht allein der Tatsache, dass sie möglicherweise in einer Woche in der Arena stehen könnte.

Mutter hatte zu Hause bleiben dürfen. Ein Friedenswächter war vorbeigekommen, nachdem Vater darum gebeten hatte, sie in ihrem Bett lassen zu dürfen. Er hatte ihren Zustand als todkrank erklärt, was sie ja auch war, und Vater einen Zettel überreicht, mit einer Unterschrift darauf.

Seit Eastons Tod litt Mutter unter schweren Depressionen und arbeitete nicht mehr, verließ kaum das Haus. Früher hatte sie Netze für die Fischer geknüpft, doch nun konnte sie das nicht mehr, wodurch das Mädchen nach der Schule oft stundenlang einen Knoten nach dem anderen machte, um die Familie über Wasser zu halten. Vater war zwar Fischer und verdiente damit etwas, doch das wäre auf Dauer zu wenig.

Darum kamen ihre Hausaufgaben zu kurz, sie hatte oft nicht die Gelegenheit zu lernen, denn am Wochenende stellte sie sich auf den Markt und verkaufte einige Fische, die ihr Vater übrig hatte.

Die einzige Rettung, die sich ihr bot, war Megan, ihre Sitznachbarin und beste Freundin, von der sie bei Prüfungen immer abschreiben durfte.

Vor wenigen Wochen war Mutter sehr krank geworden. Niemand sprach es aus, doch tief in sich wusste das Mädchen, dass sie jeden Moment sterben konnte.

Nun konzentrierte sie sich aber auf die Bühne vor ihr, die in diesem Moment von Bürgermeister Baskin betreten wurde. Hinter ihm folgten die drei einzigen noch lebenden Sieger aus Distrikt 4, Mags Cohen, Muscida Selkirk und Librae Ogilvy. Ursprünglich hatten sie fünf Sieger gehabt, doch zwei waren bereits vor Längerem verstorben. Als Letzte betrat Alessia Sulyard in einem orangen Kostüm, das dem Federkleid eines Kanarienvogels ähnelte, die Bühne.

Baskin hielt wie immer eine Lobrede auf das Kapitol, dann wurde der Film über die Rebellion gezeigt. Schließlich trat Alessia vor und sprach ihre üblichen Worte: „Fröhliche Hungerspiele, und möge das Glück stets mit euch sein! Ladies first!"

Neben dem Mädchen stand Megan, die nun ihre Hand nahm und fest drückte. Sie konnte einen leichten Schweißfilm darauf fühlen, aber war es verdenklich? Immerhin könnte eine von ihnen gezogen werden. Dann würden sie sich nie mehr wiedersehen.

Langsam holte die Betreuerin einen er totbringenden Zettel heraus, faltete ihn auf, und rief mit schriller Stimme ins Mikrofon.

„Elsa Bail!"

Nein. Nicht auch noch Elsa. Nicht die liebe, nette Elsa aus der Nachbarschaft, mit der sie in den letzten Jahren immer zur Schule gegangen war.

Da ging sie, durch die Reihen der Mädchen, hatte ein gefasstes Gesicht aufgesetzt. Man sah ihre Gefühle nicht, die hatte sie gut hinter einer undurchdringlichen Maske verschlossen.

„Schön!", rief Alessia, als Elsa die Stufen zur Bühne erklommen hatte, „Sehr schön! Und nun zu den Jungen!"

Sie trippelte in ihren scheinbar meterhohen Absätzen hinüber zu der zweiten Glaskugel und wühlte ein wenig darin herum. Dann entschied sie sich für ein Kärtchen, ging wieder zurück zum Mikrofon und öffnete den kleinen Zettel.

Bitte, lass es nicht auch noch Alan sein.

„Finnick Odair!", schrillte Alessias Stimme über den Platz.

Sie kannte seinen Namen, sie wusste, wie er aussah. Aber das wusste jeder, denn dieser Finnick war unter allen Schülern, besonders den Mädchen, berühmt. Er war sehr hübsch, zweifelsohne auch charmant, alle ihre Freundinnen himmelten ihn an, und die waren lange nicht die einzigen.

Beinahe jedes weibliche Geschöpf unter achtzehn Jahren war in ihn verliebt, oder fand ihn zumindest süß. Sie war da wohl die große Ausnahme. Es kam ihr dumm und einfach nur kindisch vor, sich in jemanden zu verlieben, den man nicht haben konnte, der zwei Klassen über einem war, der einen nicht einmal beachtete. Dieser Finnick konnte zwischen so vielen wählen, warum sollte er da genau sie nehmen?

Um sich herum konnte sie viele erstickte Aufrufe vernehmen, viele Mädchen begannen zu weinen. Sie sollten sich freuen, dass sie selbst nicht gezogen wurden, statt einem Jungen nachzutrauern, den sie nicht einmal gekannt hatten.

Es traf sie viel tiefer, dass Elsa gezogen wurde. Die beiden Tribute schüttelten sich unterdessen die Hände, dann wurden sie ins Justizgebäude geführt wie zwei Verbrecher.

So schnell sie konnte suchte sie nach Vater. Als sie ihn fand nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich vom Platz. Ihr fiel auf, dass er das schon ewig nicht mehr getan hatte, darum genoss sie dieses Gefühl sehr.

Hand in Hand schlenderten sie den Weg zu ihrem Haus zurück, vor der Türe blieb das Mädchen einen Moment stehen und sah auf das Meer hinaus.

Elsa hatte es hier geliebt, hatte den Ausblick auf das Wasser so gerne gehabt. Das hatte sie ihr jeden Morgen erzählt.

Auch Easton hatte es hier geliebt. Hier, in Distrikt 4. In der Heimat.

Kleine MeerjungfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt