Kapitel 1

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Das Meer.

Es schien so ruhig.

So sanft.

Als könnte es niemandem etwas zuleide tun.

Aber es war unberechenbar.

Viele schon fanden ihren Tod in dem so trügerisch ruhigen Wasser.

Viele schon zog es in seine Tiefe.

Viele schon verschluckte es und gab sie nie mehr zurück.

Viele schon kehrten seinetwegen nicht mehr nach Hause.

Viele Familien zerriss es schon.

Es war stürmisch, holte alle, die sich zu weit hinauswagten, zu sich, nur, um im nächsten Moment wieder wunderschön und ruhig dazuliegen.

Und neue Opfer mit seiner Pracht anzulocken.

Es war der ewige Kreislauf.

So war es heute.

So würde es immer sein.

Auch das etwa siebenjährige Mädchen, das am Strand entlanghüpfte, wusste dies. Sie summte eine Melodie, ein einfaches Fischerlied, dass in ihrer Heimat jeder kannte, sogar die Kleinsten. Dabei blieb sie immer wieder stehen, bückte sich, um eine Muschel aufzuheben und in den goldbraunen Beutel, welchen sie bei sich trug, zu stecken. Dann hüpfte sie weiter, ihr dunkelbraunes, leicht welliges langes Haar wehte hinter ihr her.

Plötzlich blieb sie stehen, die Melodie verstummte und sie blickte mit glänzenden Augen auf das Meer hinaus. Sie liebte es, einfach alles daran, wie es funkelte, wenn die Sonne darauf schien, wie man sich treiben lassen konnte, das leise Geräusch, wenn eine neue Welle heranrollte, ja, sogar der Geruch faszinierte sie.

Darum atmete sie tief ein, sog so viel wie möglich von der salzigen Luft in ihre kleinen Lungen. Dann stieß sie diese wieder aus und ließ sich mit einem Seufzen in den Sand plumpsen. Sie vergrub ihre zierlichen Hände darin, ließ ihn durch ihre Finger rieseln, nahm eine neue Hand voll. Einige Zeit wiederholte sie dieses Schauspiel, dann stoppte sie mitten in der Bewegung und ließ ihren Oberkörper langsam zu Boden sinken.

Sie konnte spüren, wie der Sand sich in ihren Haaren verfing, am Kragen in ihr dunkelblaues Kleid eindrang. Er rieb leicht auf der Haut, ein Gefühl, dass sie mochte, auch, wenn Mutter danach immer schimpfte, da sie all die feinen Körnchen aus der Kleidung und der dunkelbraunen Haarpracht entfernen musste. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf die Lippen des Mädchens, dann schloss sie die grünen Augen. Einen Moment dachte sie noch, dass ihre Eltern sich sorgen würden, wenn sie nicht nach Hause kam, im nächsten war sie eingeschlafen.

Einzig das Geräusch der Wellen durchbrach die friedliche Stille, die herrschte, und die untergehende Sonne tauchte das gesamte Szenario in ein unwirkliches, oranges Licht.

Kleine MeerjungfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt