Kapitel 1

61 9 3
                                    

                              
Seit 15 Minuten vertröstete uns jetzt schon die elektronische Stimme am Bahnhof. Die Geduld, um die sie bat, hatte ich schon an meiner Haustür verloren. Die Aussicht auf diesen „wunderschönen und teamstärkenden" Firmentripp (Aussage meines Chefs) hatte für den heutigen Tag eigentlich schon gereicht. Anwesenheit war natürlich Pflicht und Krankheitstage wollte auch keiner sammeln.
Doch die Tratschtanten aus dem ersten Stock hatten das anders gesehen. Sie hielten den Fahrstuhl mit Freuden in ihrer Etage beim quatschen auf und gaben diesen erst wieder frei, als ich meinen viel zu schweren Koffer die Treppen hinunter gehievt hatte. Um die ganze Sache abzurunden, kam der Zug natürlich zu spät. Einen Bus zu organisieren, war anscheinend keine sinnvolle Idee gewesen. Als der Zug nun nach 20 Minuten in den Bahnhof einfuhr, suchte ich zielstrebig nach dem Serviceabteil. Wenn schon dieser Firmentripp sein musste, dann würde ich ihn auch genießen. Angefangen mit Snacks aus dem überteuerten Automaten im Zug. Das passte eventuell nicht wirklich in meinen Diätplan, aber wenn ich ehrlich war, dann wollte ich niemanden auf diesem Ausflug beeindrucken und jemanden außerhalb der Firma zu finden, war nicht so einfach, wenn man nur noch schnell in den Supermarkt rannte und dann ins Bett fiel.
Ich war noch nicht ganz bei den Automaten angekommen, da kam ein blonder breitgrinsender Schönling auf mich zu und half mir mit meinem Gepäck. Wenn ich vorstellen darf: Steve, mein Lichtblick auf dieser Reise.
„Guten Morgen, Prinzessin. Du läufst ja förmlich über vor guter Laune.", begrüßte er mich. Ich hingegen seufzte nur und ging zielstrebig auf den Snackautomaten zu, sobald mein Gepäck an seinem Platz stand. „Mensch, Kim! So schlimm wird der Ausflug schon nicht.", kommentierte Steve meinen Diätabbruch. „Stimmt!", nuschelte ich, „Er wird wahrscheinlich noch meilenweit schlimmer."
Er schüttelte den Kopf: „Wer den Teufel an die Wand malt, den kommt er auch besuchen." Bei dieser Aussage klang er eher belustigt, als verstimmt. Wie konnte Steve nur so gut gelaunt sein? Meine Laune erreichte fast den Tiefpunkt, nur die hell erleuchteten Snacks im Automaten entlockten mir ein kleines Lächeln.
Ich wühlte meinen Geldbeutel hervor und schaute nach meinem Kleingeld. Nach kurzer hin und her Rechnerei holte ich mir drei Schokoriegel, eine kleine Tüte Chips und ein Wasser. Die würde ich ganz genüsslich langsam auf der Fahrt in meinen Bauch hineinstopfen. Vielleicht schaffte es einer auch noch lebend auf mein Zimmer, aber spätestens da würde ich ihn essen und eventuell das Abendbrot mit den Kollegen dafür sausen lassen, das kam aber auf die Einkaufsmöglichkeiten und, einem eventuell, gefüllten Minikühlschrank im Zimmer an.
Mit meiner Ausbeute machte ich mich auf den Weg zu Steve, der schon am Fenster Platz genommen hatte.
„Du weißt schon, dass dich das Zeug nur sehr kurz glücklich machen wird? Du wirst mir noch während des Ausflugs die Ohren voll heulen, dass du fett bist.", verkündete Steve mit einem Seitenblick auf den ersten Schokoriegel, den ich aus seiner Verpackung befreite. Das Szenario war gut vorstellbar, doch das hielt mich trotzdem nicht auf. „Ach, Stevie! Du darfst mich gerne rügen, wenn ich das mache oder mir den Mund verbieten. Momentan allerdings, sehe ich keinen Grund meine Figur zu halten. Ich bin 25, single und auf einem Ausflug, bei dem der einzige gut aussehende und interessante Typ mein bester Freund und schwul ist. Warte!", unterbrach ich mich selbst, denn ich hatte jemanden ausgelassen, „Ich korrigiere: Ein Ausflug bei dem zwei gut aussehende und interessante Typen bei sind, von denen einer schwul und einer ein völliger Playboy ist."
„Bi!", korrigierte er mich. „Außerdem hat Shawn es sich mit mir verscherzt. Er hängt nur noch mit Vinzenz rum und denkt nicht mehr dran irgendwas mit mir zu unternehmen."
Ich verzog angewidert das Gesicht. Ich mochte Shawn nicht und das wusste Steve auch, aber ignorierte es gekonnt. 

Als der Zug nun bei der nächsten Station stehen blieb, stiegen der Abteilungsleiter und ein weiterer Kollege ein. Sie waren die Einzigen, die etwas weiter am Rand der Stadt wohnten.
Die Beiden schienen ein angeregtes Gespräch zu führen, doch wurden sofort stumm, als sie Steve und mich erblickten. Das war doch etwas komisch, da wir nicht wirklich viel mit ihnen zu tun hatten. Als Gabriel, unser Abteilungsleiter, mich dann auch noch anlächelte, war ich gänzlich verwirrt. Er war zwar als Aufreißer bei uns in der Abteilung bekannt, obwohl er weniger aufriss als einfach nur ein paar der Angebote seiner Kolleginnen anzunehmen, aber trotzdem lächelte er nicht jede dauernd an. Ob es daran lag, dass ich letzte Woche fast ausschließlich mit ihm zu tun hatte, weil seine Sekretärin krank gewesen war? 

Gabriel und der andere Kollege wechselten das Abteil, was Steve dazu veranlasste mich am Arm zu rütteln und mich ungläubig anzuschauen. „Hab ich letzte Woche irgendetwas verpasst?", fragte er mich aufgeregt. Er war immer gleich Feuer und Flamme, wenn es um neue Pärchen in der Firma ging. Ich schüttelte aber zu seiner Enttäuschung den Kopf: „Nein, eigentlich nicht. Er ist wahrscheinlich einfach nur freundlicher zu mir, weil wir letzte Woche so viel miteinander zu tun hatten." Steve lächelte mich schelmisch an. Mensch, dieser Mann musste alles so zweideutig aufnehmen. „Wir haben gearbeitet, Steve. Außerdem will ich mir Jennifer nicht zum Feind machen."

Jennifer war schon eine Weile hinter unserem Abteilungsleiter her, doch irgendwie schenkte er ihr keine Beachtung. Könnte auch daran liegen, dass selbst Gabriel seine Prinzipien hatte. Denn Jennifer wechselte gern und häufig ihre Liebhaber und machte es sich zur Aufgabe, lauthals zu diskutieren, ob sich der letzte Partner nun gelohnt hatte oder nicht.
Aus diesem Grund hielten manche der Kollegen Abstand von ihr, aber trotzdem war die Auswahl für sie nicht gerade klein. In der Firma gab es nur wenige Frauen und für die Männer, die Single waren, war jede von ihnen ein gefundenes Fressen. Aber ich hatte schon bei Zeiten klar gemacht, dass ich dafür nicht zu haben war. Die meisten ließen sich auch mit dem Spruch: „Ich fange grundsätzlich nichts mit Kollegen an!", verscheuchen, doch manchen musste man wirklich mit Meldung drohen oder Hilfe holen, sodass sie wirklich locker ließen. Ich konnte ja verstehen, dass sie es auch nicht einfach hatten, aber alles hatte seine Grenzen. Zeitmangel und Triebe hin oder her.

Da Steve keine neuen Informationen von mir bekam, brachte er mich über jeglichen Klatsch und Tratsch in der Firma auf den neusten Stand. Aber das, war nach einem Wochenende, an dem Steve in der Firma Schicht hatte, auch nicht anders zu erwarten gewesen. Man hatte nicht viel zu tun und überzog gerne mal das ein oder andere Päuschen, um mit den Kollegen zu quatschen. Da erfuhr man oft Neues, aber selten was Wahres.

Bei der ganzen Quatscherei mit Steve, hatte ich total die Zeit aus den Augen verloren und staunte nicht schlecht, als wir am Zielbahnhof ankamen. Weit hatten wir es auch nicht mehr, da das Dörfchen sehr klein war. Am Bahnhof hatte es gerade mal einen Kiosk gegeben und auf dem Weg zur Unterkunft hatte ich kein weiteres Geschäft entdecken können. Das war es wohl mit meinem vorgenommenen Diätende. Trotzdem musste ich zugeben, dass sich meine Laune langsam aufhellte. Der Ort war ruhig und die Unterkunft lag an einem Wald. Vielleicht würde ich doch nicht so viel mit meinen Kollegen zu tun haben. Die meisten von ihnen waren eingefleischte Stadtmenschen und ich konnte mir gut vorstellen, dass sich der Großteil in der Unterkunft verschanzen würde. Ich war jetzt auch kein Naturfreak und hasste die meisten Insekten, aber ein wenig im Wald spazieren würde ich auf jeden Fall. Ich musste mir also nur einen schönen Platz draußen suchen und schon hätte ich meine Ruhe. 

Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meinen Chef gemacht. Dieser verkündete nämlich einen straffen Plan mit Wanderungen und Unternehmungen, die der Stärkung des Zusammenhalts dienen sollten. Das war auch noch sein voller Ernst. Mit vorgegebener Grüppchenbildung und Treffpunkten zur Kontrolle der Anwesenheit. Wie alt waren wir bitte? Hatte ich etwa den falschen Zug genommen und war auf einer Klassenfahrt mit einem Überpädagogen als Lehrer gelandet?

Kimberly - Tochter des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt