Heute ist es soweit. Ich werde Tante Anny seit langem wieder besuchen. Und das alles Dank meiner liebreizenden Megan, die es mir ermöglicht hat. Sie wird heute ihren freien Tag für mich opfern und meine Schicht übernehmen.
Ich habe in ihr eine Vertraute gesehen, seit dem ersten Augenblick an. Sie war immer für mich da. Und ist es auch immer noch. Tausende Male war ich schon am Boden und jedes Mal, immer wieder hat sie mir aufgeholfen. Ich bin einfach froh, sie zu haben und ich hoffe für sie, dass sie irgendwann ein Mal ihre Liebe für's Leben findet.
Sie glaubt nämlich nicht an die Liebe und meint, sich mit ihrer Arbeit ewig halten zu können. Aber später wird sie sich nach einer eigenen Familie sehnen. Nach einem Mann, den sie über alles liebt und er ihre Liebe genau so erwidert. Irgendwann entstehen ganz viele, süße, kleine Babys und ich werde Tante. Ich meine, jeder wünscht sich das doch irgendwann ein Mal. Das kann mir keiner ausschlagen. Man will ja nicht einsam - und alleinlebend enden.
Außerdem braucht man später jemanden, der für dein Wohlergehen sorgt. Ich kann diese Gewissheit nicht ertragen, alt zu werden und nicht mehr fähig dazu zu sein, selbstständig klarzukommen und auf Hilfe anderer angewiesen zu sein. Deswegen würde ich es lieber haben, dass sich später meine erwachsenen Kinder um mich kümmern, als irgendwelche Pfleger, die mir doch total fremd wären.Ich schäme mich zutiefst, Tante Anny im Stich gelassen zu haben. Es geht nicht anders. Ich bin dazu nicht imstande eine Demenzkranke zu versorgen. Sie braucht vierundzwanzig Stunden Pflege am Tag und das kann ich, so leid es mir auch tut, ihr nicht bieten.
Nachdem ich den Kaffee ausgetrunken habe, rufe ich mir einen Taxi. Leider dauert es 40 Minuten bis zum Altersheim. Und das schon nur mit einem Auto. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie viele Minuten ich zu Fuß gebrauchen würde. Für sie ist mir das Geld, das ich für einen Taxi ausgebe absolut wert.
Ich nehme ein Biss meines Nutellabrotes und lasse mir die schokoladige und süßschmeckende Creme im Mund zergehen. Was gibt es schöneres, als dieses herrliche Zeug auf der Zunge zu spüren? Ich werde aus meinen Genuss-Gedanken gerissen, als es Draußen zwei Mal hupt. Das muss wohl das Taxi sein. Mein Verdacht bestätigt sich, als ich aus dem Fenster blicke und ein gelbes Auto am Straßenrand geparkt sehe. Ich lasse alles stehen und liegen, schnappe mir meine Sachen, die ich vorher eingepackt habe und steige in das Taxi ein. Nach knappe 35 Minuten nähern wir uns dem Ziel. Mein Herz klopft wie wild. Ist es Aufregung? Oder Angst? Angst, sie zu sehen. Angst, auf ihre Reaktion? Wird sie mich wiedererkennen? Vielleicht haben sich ihre Erinnerungen an mich schon längst aus ihrem Kopf geschlichen.5 Minuten später überreiche ich ihm mit schwitzigen Händen das Geld und steige aus. Am liebsten würde ich sofort wieder einsteigen und umkehren. Doch zum Glück fährt er schnell davon und ich habe keine Möglichkeit mehr, von hier zu fliehen. Also verwerfe ich diesen Gedanken sofort.
Hier stehe ich nun. Vor dem Pflegeheim, in dem Tante Anny vor 3 Jahren eingewiesen wurde. Mit langsamen Schritten gehe ich hinein und schaue mich um, bis sie mir ins Auge fällt. Sie unterhält sich anscheinend mit einer älteren Dame an ein kleinen, runden Tisch. Ich gehe auf die beiden zu und begrüße sie.
„Hallo, störe ich?"Die ältere Dame schaut zu mir auf und ich sehe sofort, dass sie etwas an sich hat. Sie strahlt Liebe und Geborgenheit aus.
„Oh, nein nein. Kommen sie ruhig. Sie müssen wohl die Tochter sein, von der Annelie mir gerade erzählt hat." Tochter?Verblüfft schnellt mein Kopf in die Richtung meiner Tante. Sie lächelt mich warm an. Ich widme mich wieder der Dame zu.
„Ehm, Tante Anny hat keine Kinder. Ich bin ihre Nichte."
„Komisch, mir sagte sie, sie wären ihre Tochter."
„Sie hat Alzheimer."
„Oh, das tut mir leid."
„Sie konnten es ja nicht wissen."
„Gut. Ich gehe dann Mal jetzt, ihr wollt sicher alleine sein."
„Sie können ruhig noch bleiben, wenn sie wollen."
Allerdingst lehnt sie ab.
„Nein nein, ich wollte sowieso ein kleines Mittagsschläfchen machen. Es hat mich gefreut, sie kennenzulernen, Cassidy."
„Mich auch."Gleich darauf steht sie auf und geht. Ich umarme meine Tante und nehme den Platz der Dame ein.
„Schön, dass du mich mal wieder besuchen kommst, mein Kind."Ein gezwungenes Lächeln überkommt mich.
„Ich habe viel zu tun. Die Arbeit und so." Wenn sie wüsste, was für eine Arbeit.
„Du kommst deine Mutter viel zu selten besuchen." Mutter? Das hat sich Tante Anny also dieses Mal ausgedacht. Sie denkt, ich sei ihre Tochter. Leider widerspricht sie sich selber.Ich nehme ihre Hände in meine und schaue ihr tief in die Augen.
„Tante Anny, du bist nicht meine Mutter."
„Aber natürlich!"
„Nein, du bist meine Tante."Plötzlich zieht sie ihre Hände aus meinen und schaut mich verärgert an. In dem Moment kommt Mia, die Pflegerin, die für sie zuständig ist und unterbricht uns. Sie spricht erst zu meiner Gegenübersitzenden.
„Ich entführe Cassidy kurz, okay? Sie kommt gleich wieder zurück." bei diesen Worten tätschelt sie Tante Anny's Rücken, bevor sie sich zu mir dreht.
„Kann ich dich Mal bitte sprechen?"
Oh nein. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich. Das verheißt nichts gutes. Ein letztes Mal blicke ich noch zu Tante Anny, als ich mich dann erhebe. Ich brauche dringend frische Luft.
„Wollen wir spazieren?"
„Ja."Draußen gehen wir einen gemütlichen Weg entlang und genießen den Anblick vom schönen Gras, der mit tausenden von kleinen Gänseblümchen versehen ist. Es liegt etwas beunruhigendes in der Luft. Nach einem lautem Atemzug beginnt Mia, zu reden.
„Deine Tante denkt, du bist ihre Tochter."
„Das ist mir bereits aufgefallen."
„Ihr Zustand verschlechtert sich. Sie isst nicht mehr regelmäßig und ihre Muskulatur ist schwächer als zuvor."
Ich schlucke den Kloß im Hals mit aller Macht hinunter, unterdrücke meine Tränen. Ich möchte jetzt gehen. Ganz weit weg, wo ich diesem Alptraum entgehen kann.
„Ich denke, es ist an der Zeit zu gehen. Ich habe noch vieles zu erledigen."
„Möchtest du nicht noch ein wenig bleiben? Deine Tante fragt andauernd nach dir. Du besuchst sie wirklich kaum."
„Es tut mir leid. Ich ertrage das nicht. Sie so geschwächt zu sehen, das kann ich nicht. Ich erkenne sie nicht wieder. Sie war doch immer die Stärkere von uns beiden."
„Okay, auch wenn ich das nicht gut finde. Es liegt an dir. Komm bald wieder, ja?"Ich kann nicht mehr tun, als nur zu nicken und ihr nachzusehen, wie sie wieder hineinjoggt. Hinein zu Tante Anny, die nicht mehr Tante Anny ist.
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Begehrt
RomanceCassidy erwacht aus dem Koma und kann sich an nichts mehr erinnern, außer an einer Person, über der sie jedoch nur den Namen weiß. Vier Jahre später sind ihre Erinnerungen immer noch nicht zurück. Bis Gott ihr einen Engel schickt und eines Tages all...