Kapitel 23

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Aidan's Sicht

Gierig schnappe ich nach Luft und versuche, mich zu erholen. Mein Puls rast, Schweißperlen rinnen mir über das Gesicht. Verdammt, seit einigen Tagen plagen mich schon diese schlimmen Albträume. Als ich mich nach ein paar Minuten wieder fasse, setze ich mich auf und greife nach meinem Handy. Es ist 02:00 Uhr nachts. Wieder einschlafen und ein weiteren Albtraum über mich ergehen lassen, werde ich wohl kaum. Also komme ich zu dem Entschluss, mir zunächst einmal ein Glas Wasser zuholen.
Ich stehe vom Bett auf und ziehe mir eine Jogginghose über, bevor ich erschöpft die Treppenstufen langsam hinuntergehe.

Im unteren Flur angekommen, halte ich kurz inne. Mein Barglobus schleicht sich in meinen Gedanken. Warum eigentlich ein Glas Wasser wenn ich doch auch ein Glas meines köstlichen Weins zu mir nehmen kann? Nein! Zu einem Glas würde es nie bleiben, also verwerfe ich sofort diesen Gedanken und führe meinen Weg zur Küche fort. Ich schnappe mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, ebenso ein Glas, dass ich vollmache. Ich öffne meine Lippen und trinke das kühlende Getränk zügig aus, bevor ich mich hinüber zum Wohnzimmer begebe. Dort fällt mein blick zum Sofa, wo ich mich müde fallen lasse und die Ruhe genieße. Bis die Stille plötzlich von meinem Klingelton unterbrochen wird. Ich bin verwundert, wer ruft um diese Zeit an? Ich hole mein Handy aus der Tasche meiner Jogginghose und blicke aufs Display. Anonym.
Mit einem Schlag ist meine Müdigkeit weg. Mein Puls beschleunigte sich als wäre ich.. aufgeregt? Quatsch! Selbstsicher nehme ich den Anruf entgegen.

„Hallo?" Keine Reaktion. Stille. Ich habe das Gefühl, eine Ahnung zu haben, von wem der Anruf kommt.

„Sprich." Ich warte eine Weile, gebe ihr die Chance, zu reden.
„Bitte." Als auch dann nichts kommt, versuche ich es mit etwas Druck.
„Ich weiß, dass du es bist."  Ich meine, ein aufgeregtes Atmen zu hören. Ich warte eine Weile, aber ich kriege keine Antwort.

Wissend, dass sie mir zuhört, rede ich weiter.
„Kannst du auch nicht schlafen?" Kein Erwidern, doch ich gebe nicht auf.
„Nun, wir sollten etwas dagegen unternehmen." Ihr Atem. Ich nehme ihn so intensiv wahr. Stoßweise.
Mein Verlangen danach, sie zum Reden zu bringen, wächst.

„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?" Da ich schon voraussehen kann, dass keine Antwort kommen wird, fange ich einfach an.
„Ein kleiner Junge geht zur Schule. Er hat keine Freunde, ist immer alleine und wird gehänselt, jedoch behält er es aus Angst für sich, hält es vor seiner Familie geheim. Vor seinem älteren Bruder, der ihn über alles liebt und der es aber schließlich bemerkt . Er findet ihn eines nachts weinend im Zimmer auf." ich stoppe kurz als nur ein flüstern von ihr kommt „Was dann?"
„Der große Bruder ist mit ihm zur Schule gegangen und hat es seiner Lehrerin erzählt. Dass erzählt, was der kleine Junge sich nicht getraut hat, zu erzählen. Natürlich hat die Lehrerin dann gehandelt. Seither hat es keiner mehr gewagt, seinen kleinen Bruder anzurühren."
„Das ist wirklich mutig und süß von seinem Bruder."
Ich lache auf.
„Meinst du?"
„Ja. Nun möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Darf ich?"
Ich bereue es augenblicklich nicht, den Barglobus aus meinen Gedanken verbannt zu haben. Denn bis jetzt wäre ich nämlich längst schon voll und könnte keinen klaren Gedanken fassen.
Keinen klaren Gedanken fassen? Das kannst du doch sowieso nicht bei dieser Stimme!
„Aber natürlich." Vorfreude macht sich in mir breit, denn ich darf mehr von ihrer herrlichen Stimme hören.
„Ein kleines Mädchen ohne Eltern. Sie gibt sich mit ihren Leben zufrieden, denn eine wundervolle Frau zieht das Mädchen mit voller Liebe groß. Sie schätzt ihr Leben, denn andere haben es wesentlich schlimmer als sie. Bis sie eines Tages von etwas schrecklichem erwacht. Sie hat etwas verloren, dass sie bis heute misst. Und auch die wundervolle Frau hat sie verloren. Heute ist die Hälfte ihres Lebens nur noch ein Rätsel"
Was meinte sie mit Rätsel? Bedauerlicherweise muss ich entsetzt feststellen, dass sie weint. Nein, ich will nicht, dass sie weint. Ich habe den Drang, bei ihr zu sein, ihre Tränen sanft wegzuküssen, sie zu umarmen, sie liebevoll zu streicheln und ihr zu sagen, es wird alles gut. Als sie anfängt zu schluchzen, zieht sich mein Herz zusammen.
Bitte was? Lächerlich! Einfach nur lächerlich, Aidan!
„Das Mädchen ist einsam. Sie sehnt sich nach.." sie hält inne.
„Nach was sehnt sich das Mädchen?"
„Nach Liebe, nach Geborgenheit aber nach was sie sich am meisten sehnt, ist das Verlorene in ihr. Sie will endlich Klarheit, aber wie? Es kränkt sie zutiefst und schmerzt. Es schmerzt, dass sie keinen hat. Sie hasst sich dafür, was sie tut. Sie hasst das ungerechte Leben."
Ihre traurige Stimme tut mir in den Ohren weh. Das Verlorene. Was meint sie damit?
Als sie schnieft, spricht sie weiter.
„Tut mir leid." Ich höre das erzwungene Lächeln in ihrer Stimme. Nein, sie soll sich nicht verstellen. Nicht für mich.
„Es ist in Ordnung."
„Es ist schon spät. Wir sollten auflegen. Verzeih, wenn ich dich gestört habe."
„Oh keineswegs. Es war mir eine Freude. Sollte ich mich auf ein nächstes mal vorbereiten?"
„Ich weiß es nicht." ein Lächeln, dieses Mal ehrlich in ihrer Stimme.
Ich sehe ein, dass sich ein weiterer Anruf nicht zum Guten wenden würde.
„Gute Nacht, Cassidy."
„Gute Nacht, Aidan."
Benebelt, mein Handy noch am Ohr, stelle ich enttäuscht fest, dass sie aufgelegt hat.
Ich lege mich auf den Rücken und entspanne mich. Ich schließe die Augen, bis ich dem Schlaf verfalle.

Begehrt  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt