Kapitel 5

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Leslie wurde wirklich wieder einigermaßen normal. So wie eine Leslie nunmal normal sein konnte. Die halbe Stunde, die wir noch warten mussten bis das Essen auf unseren Tellern seinen Platz fand, verbrachten wir anfangs in meinem Zimmer. Nach meiner Ellenbogen-Aktion musste ich sie erst aus dem Blickfeld der de Villiers-Brüder ziehen. Denn einen Kommentar von unserem Lackäffchen, hätte uns in dieser Lage wirklich nurnoch gefehlt. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, betraten wir den Ballsaal, in welchem heute das erste mal eine 'Party' stattfand -so weit ich weiß. Ich wusste nicht was ich erwartet hatte, vielleicht ein genauso kitschig geschmückter Raum, wie Charlottes Outfit, oder doch einen kahlen Saal, in welchem alle Gäste steif rumstanden und sich angestrengt unterhielten.

Sitzgelegenheiten gab es nur ein paar, die aber schon von Lady Arista, Maddy und anderen vergeigt wurden. Auch Charlotte hatte sich auf ihrem Thron niedergelassen. Natürlich kein Thron, aber sie saß, trotz ihrer unnatürlicher Blässe, sehr majestätisch zwischen Glenda und Gideon. Letzterer konzentrierte sich weniger auf Charlotte, als auf den Raum -fast so, als würde er jemanden suchen. Als er mich erblickte veränderte sich sein suchender Blick in einen nachdenklichen. Aber da war noch etwas, was ich nicht deuten konnte. Ich hatte das Gefühl, sein Blick verfolgte mich während Les und ich auf das Buffet zuschritten. "Oh sieh mal, Obstsalat, Gemüsesnacks, ..." sie ließ ihren Blick fast qualvoll über den ausgebreiteten Tisch gleiten, der an der Längsseite des Saales aufgebaut worden war. Und ich konnte sie verstehen: überall nur gesundes Essen. "Ah hier. Eine Frechheit die Muffins unter der Tischdecke zu verstecken. Hat aber den Vorteil, dass es niemand vermissen wird wenn wir das ganze Tablett entführen." Leslie sah mich bedeutungsvoll an und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, wozu auch? Schnell schaute ich einmal durch den Raum, um zu sehen ob uns jemand bemerken würde. Doch ich streifte nur den Blick von viel zu grünen Augen und mir wurde etwas mulmig. "Gut jetzt schnell, du nimmst die normalen Muffins ich den anderen Teller mit dem Schoko", soll Gideon doch denken was er will, ich habe jetzt erst mal Hunger. Wir griffen rasch nach dem jeweiligen Tablett und nach einem "Jetzt", stürmten wir im Slalom aus dem Raum damit wir keinen umrammten. Auch unsere Muffins blieben vollständig, als wir uns zu dem Geheimraum machten, dessen Eingang von einem Gemälde meines Vorfahren Hugh und seiner Stute Fat Annie versperrt wurde. Wir hatten uns entschieden hier zu bleiben, da wir dann schneller unser Proviant auffüllen könnten. Letztes Jahr hatte Les die geniale Idee den Raum etwas aufzupeppen, und nun ist er nach dem Dach unser Lieblingsplatz in diesem Haus.

"Sir, alles zum Start bereit Sir", sagte Leslie lachend und ich stimmte mit ein. Es war befreiend. Besonders die letzten Tage waren sehr anstrengend für mich. Ich wüsste nicht was ich ohne Leslie machen würde. Die verrückte, intelligente, schlaue, weise Leslie, die mich aufmunterte, tröstete und unterstützte. Die, die mir alles glaubte, der ich blind vertraute und ohne die ich schon längst in dieser 'Sache' eingegangen wäre, weil sie mich ablenken konnte ohne den Ernst der Lage zu vergessen und mich gleichzeitig daran errinerte, wie man parallel dazu leben konnte -mir das Gefühl gab ein normaler Teenager zu sein. All das sind die Gründe warum sie meine beste Freundin ist und warum ich ihr schon seid Jahren was schuldig bin. Ich im Gegenzug konnte sie nur nach der Trennung mit Max trösten, und ich bin froh dass sie nicht mehr Niederlagen bisher hatte. Und immer wenn ich sie darauf ansprach wie ich mich bei ihr revanchieren kann, meint sie nur: "Ohne dich wäre ich schon längst an Langeweile gestorben", und das kann ich ihr nicht abschlagen, denn Leslie kann man nichts abschlagen. Nachdem wir unsere Beute ausgelegt hatten unterhielten wir uns lautstark. Wir schrien nicht, aber flüstern war auch was anderes. Bevor ich Leslie daran hindern konnte begann sie wieder mit der Schwärmerei. Etwas eigentlich untypisches für sie aber das macht sie immer wenn sie jemanden zum ersten Mal sieht. Und es war auch eher so ein imaginäres 'Erscheinungs-Protokoll' indem sie mir Kriterien aufzählte und sich dann ein Bild zu dem passendem Charakter machte. "Also: blonde Haare, gebräunte Haut, diese unnatürliche grüne Augenfarbe die seinem Bruder ähnelt und er sah genervt aus... Ach ja und du hast gesagt er heißt Bertelin und nicht wie sein Bruder de Villiers. Sonst noch was?" Leslie schaute mich fragend an und als ich den Kopf schüttelte zierte ein gemeines Lächeln ihr Sommersprössiges Gesicht. Oje "Ich will es gar nicht wissen", ich griff nach einem Schokomuffin, sagte noch schnell, "es kommt bestimmt nichts gutes bei raus" und da hatte ich ihr den Muffin schon in den Mund gestopft, sodass die Hälfte wieder rausfiehl. Leslie wollte mich vernichtend anschauen, aber das gelang ihr so wenig, dass ich los prusten musste. Dieser Anblick war im wahrsten Sinne des Wortes, köstlich. Nach geraumer Zeit mussten wir uns beide vor Lachen den Bauch halten, als plötzlich an die Tür geklopft wurde. Ich fing mich schnell wieder und öffnete mit einem fetten Grinsen die Tür. Vor mir stand Raphael und er hatte eine neugierigen Ausdruck im Gesicht. Er drängte sich gehetzt an mir vorbei und setzte sich auf den Boden zwischen Leslie und meinem Platz. Ich schloss die Tür und bevor ich ihn fragen konnte was er hier macht kam schon die Antwort, "Entschuldigung, aber ihr seid allen Anschein nach die normalsten unter diesem Dach. Bisher hatte da drin noch niemand annähernd den Mund zu einem Lächeln verzogen. Sind das etwa Muffins?" Raphael bediente sich ungefragt an einem Exemplar und biss kräftig rein. Mit vollem Mund sagte er, "endlich was richtiges zu futtern." Er biss noch mal ab und Leslie und ich starrten ihn immernoch wortlos an. Leslie etwas mehr als ich. "Du bist ein Krümmelmonster und aus dem Grund darfst du dich hier vor dem Grauen da draußen verstecken", meinte ich schließlich. Und es stimmte, er war ein richtiges Krümmelmonster, um ihm herum waren schon mehrere Krümmel verteilt als auf dem Teller selber. Das schien auch er zu merken und es legte sich ein roter Schimmer auf seine Wangen. Leslie fiel in diesem Moment in eine noch größere Starre. "Ups", Raphael räusperte sich und stellte sich vor, "ich bin Raphael. Der kleine Bruder von dem Hornochse draußen." "Das haben wir uns schon gedacht," sagte ich mit einem schmunzeln. Er nannte Gideon einen Hornochsen. Ich beschloss dass Leslie auch mal ein Wort einlegen könnte und fügte noch, "nicht wahr Leslie?" hinzu. Die angesprochene schreckte auf und drehte ihren Kopf von rechts nach links und letztlich zu mir "Was?" Raphael lachte und nahm sich einen weiteren Muffin. "Also, wo habt ihr die her. Ihr habt doch nicht etwa alle Muffins hier versucht vor mir zu verstecken. Das würde euch nie gelingen. Ich hab so ein Spürsinn, Essen ausfindig zu machen."

" Ja, dass glaube ich auch." sagte Leslie die ihre Stimme wiedergefunden hatte. "Also ich bin Gwendolyn, aber nenne mich bitte Gwen. Und das reizende Mädchen", ich zeigte auf Leslie, "ist Leslie." Leslie nickte heftig zustimmend. Und Raphael musterte sie belustigt. Wenn er nach seinem Bruder kommt, kommt jetzt irgendein abfälliger Kommentar. "Reizend ist sie wirklich. Da hast du nicht zu viel versprochen." In seiner Stimme lag so viel Erlichkeit, dass ich nicht anders konnte als mit dem Gedanken zu spielen, die zwei zu verkuppeln. Die Muffins waren schnell aufgegessen und ich schnappte mir Leslie um nochmal mit ihr alleine zu sein, während wir nach weiterem Essbarem suchten. Innerlich hoffte ich sie würde in seiner Abwesenheit einen klaren Kopf kriegen, aber Pustekuchen!

"Er ist so anders Gwenny. Nicht so ein aufgeblasener Schnösel wie sein Bruder. Hilf mir!" flehte sie neben mir und klammerte sich an meinen Arm. Sobald wir den Raum betraten überkam mich wieder dieses mulmige Gefühl, dass mich jemand beobachtete. "Ja ist er wirklich", sagte ich während ich nach der Quelle des Blickes suchte. Mum unterhielt sich angeregt mit einem grauhaarigen Mann, der mich etwas an einen Wolf errinerte, zu 100% handelt es sich bei ihm um Falk de Villiers -Großmeister der Loge und Bruder meines Vaters. Ich warte schon seid 16 Jahren auf den Tag an dem ich Lucy und Paul treffe und habe schon jetzt eine riesige Vorfreude darauf. Es mag komisch klingen, da sie mich alleine gelassen haben. Aber sie haben geschaut, dass ich in Grace eine Mutter finde, und diese beteuert auch immer wieder, dass die zwei das Ganze zu meinem Schutz taten.

"Du, Gwen? Du wirst angestarrt. Auf drei Uhr", sagte Leslie misstrauisch. Und wirklich als ich mich um neunzig Grad drehte begegnete ich wieder Gideons unergründlichem Blick. "Der hat mich vorhin schon beobachtet." "Meinst du er weiß was?" Ich blieb wie vom Schlag getroffen stehen und die Blicke in meinem Rücken bohrten sich jetzt regelrecht in ebendiesen. "Nein", flüsterte ich. "Nein, dass ist nicht möglich. Er hat sicherlich nur geschaut wer den Raum betritt." redete ich mir ein. Wir legten unseren Weg fort und Leslie murmelte, "hoffentlich." Als ich mich umblickte ruhte der Blick meiner Mum auf mir. Sie hatte mein abruptes Stehenbleiben, glaube ich, als Schwindelgefühle interpretiert. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte mich dann dem Buffet zu. Diesmal gab es auch vereinzelt ein paar Süßigkeiten. "Gwen, hier gibts Tiramisu", rief Leslie vom anderen Ende des Tisches und ich schritt zügig auf sie zu. Flüchtend vor dem fragendem Blick, den ich im Augenwinkel neben mir ausmachen konnte. Gideon folgte mir und fragte, "willst du nochmehr für dich beanspruchen. Deine Bluse platzt doch jetzt schon fast." Ich ignorierte ihn, da ich die Sticheleien gewohnt war. Ihm wurde es zwar nie zu langweilig um trotzdem zu gehen, aber ich musste mir wenigstens keinen Spruch einfallen lassen. "Hey Gid, lass sie. Sie ist überhaupt nicht fett", kam Raphaels Stimme hinzu und ich lachte auf. Er nannte ihn auch Gid. Schnell drehte ich mich auf dem Absatzt um und streckte Gideon die Zunge raus, "tja Gid. Heute haben sich alle gegen dich verschworen", lachte ich provozierend. So viel zum Thema ignorieren. "Gid, Gid, Gid", meinte ich kopfschüttelnd und überraschenderweise grinste er. Okay, hier läuft definitiv etwas falsch. "Leslie warum kommt ihr nicht zurück? Ich warte schon so lange auf das Essen" schimpfte Raphael Leslie an und meinte nach ihrem schnauben, "Aber Mignonne, so habe ich dass doch nicht gemeint." Ich lachte weil er etwas verzweifelt aussah. Gideon schaute verwirrt zwischen uns drei umher und fragte, "ihr kennt euch?" Wir ignorierten alle seine Frage, die sowieso überflüssig war. "Ich bin fertig", Leslie hob eine Schüssel mit unserer Leibspeise hoch. "Dass dürfte vorerst reichen, oder? Was meinst du Gwenny?" 

"Das reicht ganz klar. Seid ihr euch sicher dass ihr das aufkriegt?" meinte Gideon von oben herab, als wenn er angesprochen wurde. Leslie, Raphael und ich gingen zum Ausgang und ich rief Gideon noch ein, "Tschüss Gwenny" hinterher.

Wir waren gerade an der Tür als ein aufgeregtes Quieken durch den Raum schallte. Fast zeitgleich wurde dieser in Rubinrotes Licht getaucht und ich musste erst in das erschrockene und schockierte Gesicht von Leslie starren, damit ich verstand was gerade passiert ist. Ich stürmte die Treppe hoch in mein Zimmer und ich hörte noch ein aufgeregtes, "Es ist passiert. Endlich ist das besondere in meiner perfekten Charlotte zum Ausdruck gekommen."

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" That's a guess. No one can ever say it's true. But I know that I will always be with you"

(Nine Million Bicycles von Katie Melua)

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Auf einmal war es anders (Rubinrot-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt