Er war ein Junge aus der Vorstadt Hamburgs. Kein schöner Ort, kein hässlicher Ort. Weder Schmutzig, noch sauber. Weder grün, noch grau. Weder Stadt, noch Land. Vorstadt eben. Es gab ein paar hohe Häuser. In einem davon wohnte er selbst mit seiner Mutter, in einem anderen der einzige Freund, der ihm noch war. Es gab ein paar Anhöhen und weite Felder, die er oft gedankenversunken durchstreifte.
Solang er denken konnte, war er ein Vorstädter. Nun bald seit 23 Jahren. Seine Mutter erzählte ihm immer, er sei genau der Zehntausend und erste Bewohner des Kreises. Er fühlte sich dann immer besonders.
Er mochte die Vorstadt. Er verlies sie nie. Er kannte sich trotzdem aus in der Welt. In der elften Klasse hatte er einen guten Erdkundelehrer. Ein feinfühliger, doch selbstbewusster Mann in den Vierzigern. Der Junge und der Lehrer redeten außerhalb des Unterrichts nie. Wortlos mochten sie sich. Der Junge war der einzige Schüler in der Klasse, der seinen Atlas mit nach Hause nehmen durfte. Heimlich.
Der Atlas war geschickt eingeteilt von groß, nach klein. Am Anfang das Sonnensystem, dann die Erde als Planet. Auf Seite 40 eine Weltkarte, an die sich nähere Betrachtungen der Einzelnen Länder, nach Kontinenten sortiert, anschlossen. Der Atlas war eines, der zwei Bücher im Besitz des Jungen. Er besaß dazu noch einen Gedichtsband voll deutscher Lyrik. Zwei Rubriken daraus gefielen ihm besonders.
Zum einen war das der Teil zu Sehnsucht und Fernweh. Das Gefühl war ihm sehr bekannt. Zum anderen war es der große Abschnitt mit Liebeslyrik. Der war ihm unbekannt und rätselhaft. Kein einziges Gedicht daraus verstand er, obwohl er sich immer sehr beim Lesen anstrengte und konzentrierte. Er kannte nur Einsamkeit.
Bis zum fünften Jahr war er ein fröhlicher, aufgeschlossener Knabe. Seine Eltern trennten sich dann und er zog sich zurück in sein inneres. Er löste den einen Teil der Freundschaften auf, der andere Teil verschwand nach Abschluss der Schule in Richtung Stadt. Auch sein Vater verschwand damals.
Man sagt, er zog nach Amerika. Leider spurlos. Es war nicht mehr als ein Gerücht.
Der Junge gewöhnte sich schnell, an die dunkle, enge Wohnung und an seine alleinerziehende Mutter. Eine Wahl lies man ihm nicht. Die Mutter war zwar selten zu Hause, aber in der wenigen Zeit, die blieb, sehr fürsorglich. Sie war Krankenschwester von Beruf. Sie waren zu zweit allein.
So wurde aus dem kleinen Jungen schneller als normal ein stiller, netter, mitleidender Erwachsener Vorstädter und sein 22. Jahr war zur Hälfte rum. Noch immer sagte er „Mama", wenn er über oder mit seiner Mutter sprach.
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Sehnsucht nach Nähe
KurzgeschichtenDie Geschichte eines Jungen, der sich furchtbar nach Nähe sehnt. Er tut alles dafür. Zu viel. Er gerät an die Falsche und tanzt mit ihr. Jeder Teil der Geschichte gehört zu einem Musiktitel. Ich habe ihn beim Schreiben gehört, höre du ihn beim Lese...