Auch jeden Sonntag arbeitete die Mutter. Immer um fünf vor 6 steht sie auf. Der Bus bringt sie eine halbe Stunde später zum Kreiskrankenhaus. Hier kümmert sie sich um jeden. Sie hört den Patienten zu, während sie die Medikamente verteilt. Sie bringt Briefe für den Chefarzt zur Post. Sie gibt den Kolleginnen Beziehungsratschläge während ihrer Mittagspause. Die Anspannung schluckt sie runter.
Zu Hause fühlt sie sich wohl. Ihr Sohn hilft ihr dabei. Auch er steht jeden Sonntag früh auf. Etwas früher als die Mutter. Er geht um halb 6 aus dem Haus zum Bäcker. So stehen immer frische Brötchen auf dem Tisch, wenn die Mutter wach wird.
Als der Junge diesen Sonntag zum Bäcker geht, ist etwas anders als sonst. Er geht den gewohnten Weg zwischen den grauen, halbhohen, etwas rissigen Häusern. So gewohnt ist der Weg, dass er völlig im Innen versinkt. Es geht ihm nicht gut und er kann es nicht richtig greifen. Er ist fast 23. Er merkt ihm fehlt etwas. Er fühlt nicht genau was, doch fühlt eine Lücke. Sie ist so groß, dass sie ihn traurig macht. Sehr traurig macht sie ihn.
Er versucht die Lücke in seinem Herzen, mit seinem starken Kopf zu erklären. Er denkt nach. Die Ideen führen ihn zu dem Gedichtsband. Zu dem Teil mit den Liebesgedichten. Diesen Teil versteht er ja nie. Er kommt darauf, dass es wohl die Liebe ist, die ihm fehlt und so traurig macht. Es ist der schönste Teil des Buches.
Die Dichter geben sich immer die größte Mühe, wenn es um Liebe geht. Sie opfern sich in ihren Texten dafür. Sie benutzen viele Beschreibungen. „Warm", manchmal „brennend", „herzlich", bis „innig", „bezaubernd", gar „verführerisch", „einnehmend", bis „aufsaugend".
Er ist ein guter Schüler. Er kennt die Worte, doch nicht das Gefühl. Fast gegensätzlich kommt ihm alles vor. Er schließt, es fehlt ihm der Teil, den er ohne ihn zu kennen für den schönsten hält. In diesem Moment wird der faustische Wissenschaftler in ihm wach. Er giert nach einer Antwort. Er macht einen Plan auf.
In die Stadt. In die Stadt will er gehen. Zum ersten mal. Ein Freund von ihm erwähnte ein Tanzlokal. Es befindet sich in der Pariser Gasse und trägt passend einen französischen Namen. „Amertume". Hier möchte er die Liebe studieren. Schon Ende nächster Woche will er hin, denn ihn dürstet es.
Er hat heillose Sehnsucht nach Nähe.
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Sehnsucht nach Nähe
Short StoryDie Geschichte eines Jungen, der sich furchtbar nach Nähe sehnt. Er tut alles dafür. Zu viel. Er gerät an die Falsche und tanzt mit ihr. Jeder Teil der Geschichte gehört zu einem Musiktitel. Ich habe ihn beim Schreiben gehört, höre du ihn beim Lese...