Cassiel war nicht besonders schreckhaft und es gab nur wenige Dinge, die ihm Angst machten. Aber gerade der Dämmerwald gehörte zu diesen wenigen Dingen.
In permanenter Anspannung, eine Hand an den Zügeln, die andere am Griff seines Schwerts, ritten er und Chandra über den matschigen Boden und passierten zahllose monströse Bäume, deren dichte Äste ihnen jedweden Blick auf den Himmel verwehrten. Der Dämmerwald lag etliche Meilen vom Königreich der Waldelben entfernt und das Betreten war aus Sicherheitsgründen strengstens verboten. Die Elbenritter jedoch mussten ihn durchqueren, um ihre finale Prüfung zu bestehen. Im Reich der Waldelben wurden sich seit jeher Legenden und Gruselgeschichten über diesen düsteren Ort erzählt, doch niemand konnte wirklich sagen, was dort in den dunklen Nischen lauerte. Und Cassiel hatte es zum Glück bei seiner letzten Prüfung nicht herausfinden müssen. Diejenigen, die es doch taten, lebten nicht lange genug, um den anderen Elben von den Schrecken des Dämmerwalds zu erzählen. Cassiel hatte an jenem Tag viele Mitstreiter verloren.
Und nun war er an den Ort seiner Albträume zurückgekehrt und musste ihn unbeschadet passieren, um zum angrenzenden Nebelwald zu gelangen und letztendlich zu den Ghulen vorzudringen.
Würde sein Leben nicht auf dem Spiel stehen, hätte er jetzt vielleicht über die Aussichtslosigkeit seiner Mission gelacht. Immer hatte er der Beste sein wollen, der Stärkste, der Furchtloseste. Und diese Ziele hatte er im jungen Alter von lediglich siebzehn Zeitläufen in Form eines Ritterschlags erreicht. Als erster minderjähriger Elb in der Geschichte des gesamten Königreichs.
Doch was hatte er nun davon?
Der König hatte Cassiel dazu auserkoren, seine entführte Tochter aus der Burg des Abtrünnigen Magiers zu befreien, der zu alledem von unzähligen Ghulen in seinem Tun unterstützt wurde. Deshalb die Phiole mit der Essenz des Drachenkrauts.
Cassiel schüttelte seinen Kopf, um sich wieder auf den Weg, der unheilvoll vor ihm und seiner Stute lag, zu konzentrieren, ohne in missmutigen Gedanken zu schwelgen. Hatte er seinem König nicht erst vor ein paar Monaten beim Ritterschlag ewige Treue bis in den Tod versprochen? Demnach gehörte sein Leben nicht mehr Cassiel, sondern seinem Herrscher, weshalb er das Himmelfahrtskommando, wie es der freche Zwerg treffend genannt hatte, ungeachtet der Konsequenzen, durchführen musste.
Der junge Ritter ließ seinen Blick prüfend über die ihn umgebenden Bäume schweifen, konnte aber nichts Bedrohliches erkennen. Trotzdem blieb seine Hand am Griff seines Schwerts.
Der Dämmerwald verdankte seinen Namen der Tatsache, dass er aufgrund eines alten Fluchs in der Dämmerung feststeckte, folglich wurde es nie wirklich hell oder dunkel.
Das gab Cassiel zumindest die winzige Hoffnung, sich irgendwie verteidigen zu können, sollte es zu einem Überraschungsangriff eines Monsters kommen. Auf seine angeborenen Elbenkräfte konnte er sich nur innerhalb des Königreichs verlassen, außerhalb funktionierten sie nicht gut genug, als dass sie ihm von Nutzen sein könnten, weshalb er nur auf sich und sein Schwert vertrauen konnte.
Ein schrilles, langgezogenes Kreischen hallte urplötzlich durch das dichte Blattwerk des Dämmerwalds und jagte sowohl Cassiel, als auch Chandra einen Mordsschrecken ein. Die Stute zitterte am ganzen Körper, als Cassiel ihr die Fersen in die Seiten rammte, damit sie schneller machte. Während sie in harten Galopp verfiel, redete er beruhigend auf sie ein, obwohl er selbst um Beherrschung ringen musste. Doch das durfte ihm sein Reittier keinesfalls anmerken und Chandra war sehr gut darin, seinen Gemütszustand zu erspüren.
Sie jagten eine Weile durch den scheinbar ausgestorbenen Wald, Cassiel konnte lediglich das stete Hufgeklapper Chandras hören, als sie urplötzlich scharf abbremste und sich dabei aufbäumte, worauf Cassiel, wild mit den Armen in der Luft rudernd, vom Sattel rutschte und hart auf dem matschigen Boden aufschlug. Er blendete den Schmerz in seinem Rücken aus und hatte im Bruchteil einer Sekunde sein Schwert in der Hand. Was auch immer Chandra und ihm den Weg gekreuzt hatte – er wollte ihm nie und nimmer unbewaffnet gegenübertreten.
Neben den panischen Geräuschen, die Cassiels Pferd von sich gab, drang nun noch etwas anderes an sein Gehör. Etwas Tiefes, Grollendes, Dunkles.
Sein Herz setzte aus, um im nächsten Augenblick noch schneller loszurasen.
Cassiel sprang auf und schnappte sich Chandras Zügel, worauf er sie aus der Gefahrenzone zog und vor sie trat. Er hatte an ihrer Flanke Kratzspuren entdeckt und näherte sich nun mit erhobenen Schwert der Bestie, die beschlossen hatte, sich einen Mitternachtssnack in Form eines Waldelben und einer Vollblutstute zu genehmigen. Aber damit hatte sie sich geschnitten, denn Cassiel für seinen Teil hatte nicht das geringste Bedürfnis, sich in der ersten Etappe seiner Reise gen Burg des Abtrünnigen Magiers fressen zu lassen.
Das wäre schier jämmerlich. Und wenn Cassiel etwas nicht war, dann jämmerlich.
„Bleib zurück, Chandra!", brüllte Cassiel und stürmte los. Er konnte die Gefahr zwar nicht sehen, doch er konnte sie spüren und würde keineswegs darauf warten, dass sie als Erstes zuschlug. Angriff ist die beste Verteidigung, schoss es ihm durch den Kopf, als die Klinge des Schwerts in einen Körper drang. Das Ding war also unsichtbar!
Das schmerzerfüllte Fauchen, das die Stille durchbrach, half Cassiel dabei, sich zu orientieren und dem Monster auf den Zahn zu fühlen. Als er allerdings zu einem zweiten, härteren Schlag ausholte, landete er keinen Treffer. Es war offenkundig im richtigen Moment zurückgewichen.
Da bemerkte er etwas Haarsträubendes – dickflüssiges, schwarzes Blut tropfte zu Boden und wies ihm somit den Weg zu der unsichtbaren Kreatur, die er verwundet hatte. Doch gerade als er eilig zum nächsten Schlag überging, prallte ein steinharter Körper gegen Cassiel und warf ihn um. Im nächsten Augenblick spürte er, wie ihm scharfe Krallen die Wange zerfetzten. Das Ding hatte es sich offenbar auf Cassiels Brust gemütlich gemacht und sorgte nun dafür, dass ihm jegliche Luft aus den Lungen entwich. Er konnte nicht mehr atmen.
Es dauerte nicht allzu lange, bis bunte Lichtblitze vor seinen Augen zu tanzen begannen, weil sein Körper all seine Sauerstoffreserven heraufbeschwor, um den Sauerstoffmangel irgendwie wettzumachen. Cassiel hatte keine Chance gegen das schwere Gewicht und fand sich damit ab, dass er in Kürze sein Bewusstsein verlieren würde.
Also doch jämmerlich, dachte er beschämt.
Als auf einmal völlig unerwartet wieder Luft in Cassiels Lungen strömte, dachte er, er wäre ohnmächtig geworden, doch es fühlte sich nicht so an. Versuchshalber setzte er sich auf und fasste sich an die Wange, die unter seinen Fingern blutete.
Er war also bei Bewusstsein.
Chandras Wiehern riss ihn aus seiner Lethargie und er sprang eilig auf und suchte fieberhaft nach seinem Schwert, das ihm während des Sturzes aus der Hand gefallen sein musste. Er fand es in der Nähe eines moosbewachsenen Felsens und rannte zu seiner Stute zurück, die ihn offenbar von der tödlichen Last befreit hatte.
Das unsichtbare Vieh hinterließ noch immer eine Blutspur, während es einen Kampf mit Chandra ausfocht, sodass Cassiel sich unbemerkt heranschleichen konnte.
Schließlich schwang er sein Schwert mit dem letzten bisschen Kraft, das er aufbringen konnte, und trieb die Klinge dort hinein, wo er den Kopf des Monsters vermutete. Es stellte sich heraus, dass er damit goldrichtig gelegen hatte.
Das Fauchen und Brüllen des unsichtbaren Angreifers verklang und verwandelte sich in klägliches Wimmern, worauf die Bestie röchelte und letztendlich völlig verstummte. Nun, im toten Zustand, war sie nicht mehr in der Lage, ihre Unsichtbarkeit aufrecht zu erhalten, sodass sich nun langsam und schemenhaft ein großer, zotteliger Körpers aus dem Nichts materialisierte.
Cassiel konnte seinen Augen kaum trauen, als er das Tier endlich zu Gesicht bekam. Es schien eine Mischung aus Wolf und Bär zu sein, ein Raubtier, das über eine Magie verfügte, wie Cassiel sie noch nie gesehen hatte.
Trotzdem hatten er und Chandra sich gut behauptet.
Wobei ein unsichtbares Tier wohl kaum an eine Horde blutrünstiger Ghule herankam.
Cassiel nahm die Zügel seines Reittiers und führte es vorsichtig durch die Dämmerung des Dämmerwalds. Er hoffte inständig, ihn bald passiert zu haben, um endlich eine wohlverdiente Rast einzulegen. Der ungerechte Kampf hatte mächtig an ihm gezehrt. Und er brauchte Unmengen an Energie für das, was ihm nun bald bevorstand.
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Das Geburtsrecht
FantasyCassiel ist die rechte Hand des Königs und sein ergebener Ritter. Er ist der jüngste Waldelb, der es in der Geschichte Amnágons so weit gebracht hat und dementsprechend stolz. Und er hat einen Auftrag von enormer Wichtigkeit: Er soll die entführte T...