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Cassiel fackelte nicht lange, als er die Burg betreten hatte und suchte die vielen verzweigten Flure nach einer Treppe ab, die in ein Verlies oder einen Kerker führte, weil er die Königstochter dort gefangen gehalten vermutete.

Einmal war er einem von der Drachenkraut-Explosion unbeschadeten Ghul beinahe in die Arme gelaufen, ein anderes Mal musste er sich hinter einem Vorhang verstecken, weil wieder eine der Riesenlibellen laut surrend in seine Richtung flog.

Seine Muskeln brannten, als er in der Hocke darauf wartete, dass sie wieder verschwand.

Wo konnte sich diese Treppe befinden? Wo war das Mädchen?

Er stand auf und setzte seine Suche fort. Mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass er auch nur die kleinste Spur ausfindig machen konnte, sank sein Mut. Der Abtrünnige Magier würde ihn aufspüren, wenn er sich so lange innerhalb seiner Mauern herumtrieb, er musste den Keller der Burg endlich finden, das Kind da herausholen und schnellstmöglich einen Abgang machen.

„Komm schon, Cassiel", murmelte er leise und schaute sich um. „Wenn du etwas verstecken wolltest, wo wäre der beste Platz dafür?" Er blieb stehen und drehte sich um die eigene Achse. Cassiel kniff die Augen zusammen und versuchte sich in die Lage des Abtrünnigen Magiers zu versetzen. Hinter einem der Gemälde würde er eine Treppe nicht verstecken; das wäre viel zu offensichtlich und klischeehaft. Auch die Ritterrüstung stand nicht zur Debatte, der kleine runde Teppich allerdings... Es fühlte sich wie ein Geistesblitz an. Der Teppich fiel auf dem grauen Boden kaum auf und Cassiel hätte ihn nicht weiter beachtet, wenn er den runden Abdruck eines Eisenrings nicht darunter ausgemacht hätte.

Blitzschnell war er bei dem ausgefransten Stofffetzen und hob ihn an, worauf er innerlich triumphierend leise aufschrie. Ein Eisenring, tatsächlich, und man konnte ihn, und die Betonplatte mit der er verbunden war, anheben. Cassiel umfasste ihn und zog und zerrte, bis die Platte mit einem durchdringenden Knirschen aufschwang. Cassiel presste die Lippen zusammen und hoffte, niemand sei auf das Geräusch aufmerksam geworden, auch wenn das zu schön wäre, um wahr zu sein, und das war ihm klar. Trotzdem blieb er allein.

Hatte er wirklich so viel Glück?

Schulterzuckend stieg er in den entstandenen Spalt und dankte den Elbengöttern dafür, keine Platzangst zu haben, worauf er die Sprossen der Leiter ergriff und langsam, Sprosse für Sprosse, in die Dunkelheit hinabstieg. Keine Treppe zwar – aber zumindest eine Leiter. Und etwas sagte ihm, dass er dort unten, wo auch immer das sein mochte, die Prinzessin finden würde. Warum sonst sollte der Abtrünnige Magier diesen Geheimgang so gut verbergen, wenn nicht, weil er dort seine Geisel gefangen hielt?

Unten angekommen, wurde der Gang breiter und heller, weil alle paar Schritte Fackeln in speziellen metallenen Vorrichtungen befestigt waren und den steinernen Boden erhellten. Als Cassiels Augen sich an die mit Feuer beleuchtete Umgebung gewöhnten, konnte er zu seiner linken und rechten Hand Zellen erkennen.

Er hatte recht gehabt – das hier war ein unterirdisches Gefängnis!

Cassiel nahm sich eine der Fackeln und suchte schematisch jede einzelne der Zellen ab, wobei er den Namen der Prinzessin immer wieder leise rief und auf eine Antwort hoffte. Und in einer der letzten fand er sie auch. Fast hätte er sie übersehen, so klein und zierlich sie doch war, aber sie hatte mit brüchiger Stimme auf seinen Ruf geantwortet und ihn aus ihren hellblauen Augen ängstlich angesehen. Das Kind hatte Tränenspuren auf den Wangen und zitterte am ganzen Leib. Seine Kleidung war zerfetzt und klebte an seinem vor Dreck starrenden Körper.

Cassiels Herz zog sich zusammen. Die Kleine hatte so etwas nicht verdient.

„Hallo", sagte er mit gesenkter Stimme und lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich bin Cassiel, ein Ritter der Waldelben. Dein Vater hat mich geschickt, um dich zu ihm zurückzubringen."

Das GeburtsrechtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt