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Ich hasste Regen.

Das war nicht immer so. Bis vor Kurzem mochte ich das monotone Tropfen des Regens an den Fensterscheiben, wenn ich im geheizten Wohnzimmer saß, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, in der linken Hand eine Tüte Chips, in der andern die Fernbedienung, mit der ich wahllos durch das Musikprogramm zappte. Es war eine seltsame Stimmung, die das Geräusch von Regen an solchen Tagen verbreitete; Wärme in einem Haus, das sonst immer von Kälte belegt war. An solchen Tagen mochte ich den Regen und das Gefühl der Geborgenheit, das er mir gab, während draußen der Sturm tobte.

Heute hingegen verfluchte ich das Wetter, die Nässe und die Kälte. Ich verfluchte den Gitarrenkasten, der tonnenschwer an meinem Rücken hing, meine Haare, die mir im Gesicht klebten und die durchweichten Turnschuhe – aber vor allem verfluchte ich mich selbst für jene Entscheidung, die mich auf eine gottverlassene Straße mitten im Nirgendwo geführt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, aber es musste dem Ende der Welt verdammt nahe kommen. Die Straße bestand aus grauem Asphalt, der in der Ferne im Nebel versank, und kilometerlangen Dickicht an beiden Rändern. Keine Spur von Häusern oder Zivilisation oder gar einem Hauch von Leben. Ich hätte vermutlich tot umfallen können und keiner hätte mich je hier draußen gefunden. Also tat ich, was jeder durchnässte Teenager in dieser Situation getan hätte: Ich ließ meinem Frust mithilfe meines beachtlichen Arsenals an Fluchwörtern freien Lauf – und begann dann, Autos zu stoppen.

Wie ich hierhergekommen war? Das war eine lange Geschichte. Eigentlich hatte sie bereits an dem Tag begonnen, an dem ich mich dazu entschieden hatte, von zuhause – oder der Ort, den ich die letzten siebzehn Jahre meines Lebens so genannt hatte – wegzulaufen. Seitdem hatte mich jede meiner Entscheidungen, jede Nacht, die ich auf Parkbänken und in nach Urin stinkenden U-Bahn-Stationen verbracht hatte, auf diese beschissene Straße geführt. Dabei hatte der heutige Tag eigentlich ganz gut angefangen. Schon gegen Mittag hatte ich mit ein paar Gesangseinlagen genug Geld zusammengekratzt, um mir ausnahmsweise mal ein Frühstück zu leisten, das nicht nur aus alten Kaugummis und Energydrinks bestand. Den Rest der Kohle hatte ich für Notfälle zur Seite gelegt und mich dann auf den Weg in die nächste Stadt gemacht. Das war der Moment gewesen, in dem sich das Blatt gewendet hatte. Nicht nur, dass der Bus plötzlich in eine völlig falsche Richtung gefahren war, nein, der Fahrer hatte mich auch noch beim Schwarzfahren erwischt und kurzerhand hier, am Arsch der Welt, rausgeschmissen. Sowas konnte echt nur mir passieren.

Als ich meinen Daumen zum gefühlt hundertsten Mal in Richtung Straße ausstreckte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Für einen kurzen, vergänglichen Moment flammte Hoffnung in mir auf. Es war nicht so, als wäre ich wahnsinnig scharf darauf gewesen wäre, bei irgendwelchen zwielichtigen Typen ins Auto zu steigen. Aber in dem Moment hätte ich vermutlich alles getan, um von hier wegzukommen.

Der Wagen wurde kein Stück langsamer, als er an mir vorbeizog. Im Gegenteil: Er schien seine Geschwindigkeit nur noch weiter zu erhöhen und ließ mich – ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen – im Regen zurück.

Ich blieb stehen und sah den Rücklichtern des Wagens hinterher, bis sie irgendwo in der Ferne verschwunden waren. Leise seufzend zog ich meinen iPod – Modell: Steinzeit – aus der Jacke und wischte mit der Hand das Wasser von seinem Display. Rasch steckte ich mir die Stöpsel in die Ohren und drehte volle Lautstärke auf. Während mich Hotel California in Endlosschlaufe zuzudröhnen begann, setzte ich meinen Weg fort.

Wie lange war ich schon unterwegs? Zwei Stunden? Drei? Vielleicht sogar mehr, so genau konnte ich das nicht sagen. Den Eisklötzen nach zu urteilen, die einst meine Finger und Zehen gewesen waren, musste ich auf jeden Fall schon eine ganze Weile hier draußen herumirren.

»Verdammter Bockmist«, grummelte ich. Da war ich nun also, durchgefroren und durchnässt bis auf die Knochen, mit leerem Magen und schmerzenden Füssen, und sehnte mich nur noch nach einer Packung Paprikachips und einer warmen Bettflasche. Wobei mir eine Tasse Tee und ein Bett alleine eigentlich schon gereicht hätten.

MeereswölfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt