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Der Reifen befand sich in einer runden Box oberhalb der Stoßstange auf der vorderen Seite des Busses. Während ich das Rad wechselte – was im strömenden Regen schon echt eine Leistung war –, wurde jede meiner Bewegungen genaustens von den beiden Geschwistern registriert. Mirjam beobachtete mich mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn, während Nils neugierige Fragen zu jedem meiner Schritte stellte.

Nach etwas weniger als zwanzig Minuten hatte ich es schließlich geschafft. Ich kam wieder auf die Beine und streckte meine verkrampften Gliedmaßen. Mit einem breiten Grinsen drehte ich mich zu den Geschwistern um.

»Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen: ein perfekt ausgewechselter Reifen«, sagte ich und wies mit einer übertrieben dramatischen Geste auf den neuen Reifen des Wagens. Mirjam war sichtlich unbeeindruckt von meiner Arbeit.

»Und du bist dir sicher, dass du alles richtig gemacht hast?«

Ich nickte selbstsicher. »Mit dem Ding solltet ihr für die nächsten tausend Kilometer bestens ausgerüstet sein«, sagte ich, auch wenn ich ehrlich gesagt keine Ahnung hatte, ob der spröde alte Reifen wirklich so lange hinhalten würde. Aber das musste ich Mirjam ja nicht unbedingt unter die Nase reiben.

Sie selbst stieß nur ein herablassendes »Hmpf« aus und wirkte beinahe skeptischer als noch vor wenigen Minuten. Für sie war wohl alles, was man tat, prinzipiell erst einmal schlecht.

»Nichts zu danken, übrigens«, sagte ich und gab mir nicht einmal Mühe, den sarkastischen Unterton in meiner Stimme zu verbergen. Mirjam hatte immer noch nichts zu sagen, aber Nils strahlte mich euphorisch an, als wolle er mir gleich um den Hals fallen.

»Danke, Marc«, sagte er und seine türkisfarbenen Augen funkelten. »Ohne deine Hilfe hätten wir noch bis Weihnachten hier festgesessen.« Er grinste. Mirjam sagte nichts, sondern durchbohrte mich lediglich mit einem weiteren Todesblick. Der Regen hatte etwas nachgelassen und obwohl Mirjam von oben bis unten durchnässt war, sah Nils immer noch aus, als hätte er keinen einzigen Tropfen Wasser abbekommen.

»Tja, dann...«, setzte ich schließlich an und fuhr mir etwas unschlüssig durch die Haare, die nass an meinem Schädel klebten. »Ich geh dann mal weiter. War, ähm... interessant, euch kennenzulernen.«

»Du gehst schon?«, fragte Nils und über sein Gesicht huschte ein Anflug von Enttäuschung. »In dem Regen? Bist du sicher? Du könntest doch auch mit uns ein Stück weiterfahren«, schlug er spontan vor. Er drehte sich zu Mirjam um. »Das kann er doch, oder?«

Ich wurde von einem weiteren, mörderischen Blick Mirjams getroffen. Ich verzog das Gesicht. So mussten sich wohl Medusas Opfer gefühlt haben, bevor sie zu Stein erstarrt waren.

»Kommt nicht infrage«, sagte sie, kurz und knapp, ohne dabei die Augen von mir abzuwenden. »Lieber laufe ich, als mit diesem Trottel im selben Fahrzeug zu sitzen. Und außerdem«, fügte sie an, »ist es sowieso viel zu gefährlich.«

»Was?« Entgeistert sah Nils seine Schwester an. »Aber er hat den Reifen für uns gewechselt!«

»Ja – damit er von uns mitgenommen wird«, entgegnete sie schnippisch. »Das war seine einzige Absicht, von Anfang an. Nach allem, was wir über ihn wissen, könnte er genauso gut ein psychopathischer Serienkiller sein.«

Ihr Bruder stieß einen genervten Seufzer aus. »Und wenn schon! Wir können ihn nicht einfach hier stehen lassen! Ich finde, wir könnten ihn mindestens bis zur nächsten Stadt mitnehmen«, protestierte er mit sturer Entschlossenheit. Er hielt inne und sah zu mir hinüber, als frage er sich, ob er die nächsten Worte in meiner Gegenwart äußern sollte. Dann senkte er seine Stimme. »Er hat uns vermutlich gerade das Leben gerettet«, flüsterte er – immer noch laut genug, dass ich es hören konnte, aber dennoch so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich mich vielleicht nicht doch verhört hatte. Das Leben gerettet? Das war dann doch etwas melodramatisch. Ich wollte gerade anmerken, dass ein Reifenwechsel wohl kaum der Rede wert war, als ich auf einmal erstarrte. Mirjam war verstummt und zum ersten Mal seit unserer Begegnung konnte ich einen neuen, unerwarteten Ausdruck auf ihrem Gesicht erkennen.

Es war Angst.

Sie atmete tief durch. »Also gut. Aber nur bis zur nächsten Stadt, verstanden?«

Ich stand da, total perplex, und fragte mich, was um alles in der Welt so plötzlich ihre Meinung geändert hatte. Ihr Blick wanderte zum Wald hinter uns und für einen Moment hatte ich das Gefühl, sie würde zusammenzucken. Ich sah über meine Schulter zurück, aber hinter mir war nichts als eine scheinbar undurchdringbare Wand aus dunklen Bäumen und dichten Büschen.

Wortlos drehte Mirjam mir den Rücken zu und öffnete die Tür des Busses auf der Fahrerseite, nur um kurz darauf im Inneren zu verschwinden. Nils schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

»Sorry dafür. Miri ist manchmal ein wenig paranoid. Ich glaub auf jeden Fall nicht, dass du ein psychopathischer Serienkiller bist.«

»Und was, wenn doch?«, fragte ich und grinste.

»Ach, da mach ich mir keine Sorgen«, gab Nils zurück. »Miri würde dir wahrscheinlich den Kopf umdrehen, bevor du uns auch nur einen Finger krümmen könntest.«

Ich lächelte gezwungen. Ich hatte definitiv keine Zweifel daran, dass sie das wirklich tun würde.

Nils öffnete die Hintertür des Wagens. »Du kannst deine Sachen hier reinlegen«, sagte er. Der Innenraum war größer als er von Außen wirkte und der ganze Boden war mit Matratzen und Kissen überdeckt. Im ganzen Raum waren Klamotten, Lebensmittel, Comichefte und kratzige Wolldecken zerstreut, fast so, als hätte jemand sein ganzes Hab und Gut in einem schnellen Moment einfach hineingeworfen.

Ich stellte meine Sporttasche ab, ließ meinen Gitarrenkasten von den Schultern gleiten – das Ding war im Regen gefühlte zwanzig Kilogramm schwerer geworden – und folgte Nils dann nach vorne. Als ich die Tür öffnete, hielt ich überrascht inne. Auf dem Beifahrersitz saß noch ein weiterer Junge. Er trug einen viel zu großen Kapuzenpullover und starrte auf das Display eines alten Gameboys, ohne mich auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.

»Das ist Leon«, erklärte Nils. »Mein Zwillingsbruder.«

Der Junge sah auf. Auf den ersten Blick sah er Nils tatsächlich verblüffend ähnlich: dieselben nachtschwarzen Haare, derselbe blasse Hautton und dieselben türkisfarbenen Augen. Im Gegensatz zu denen seines Bruders waren Leons Haare jedoch wild und standen in alle Richtungen ab.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bevor Leon seinen Blick abwandte und wieder auf das Display seines Gameboys starrte, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Ihn schien weder zu interessieren, wer ich genau war, noch, was ich eigentlich hier zu suchen hatte. Er brauchte auch gar nicht zu fragen, denn Nils begann bereits – kaum war er in den Wagen gehüpft –, die Ereignisse der letzten halben Stunde in allen Details wiederzugeben.

Ich kletterte in den Bus und lehnte mich im Sitzpolster zurück, während ich das Gefühl von Wärme genoss, das sich im Wagen breit gemacht hatte. Sprungfedern und Schaumstoff ragten aus den Polstern und das Armaturenbrett sah aus, als wäre es seit einem halben Jahrhundert nicht mehr geputzt worden. Die Hälfte der Knöpfe war kaputt und beim Tacho fehlte sogar der Zeiger. Trotzdem fühlte ich mich augenblicklich wohl hier. Man konnte sitzen und war im Trockenen – das war mehr Luxus, als ich in den letzten Monaten gehabt hatte.

»Was ist mit euren Eltern?«, fragte ich, als ich bemerkte, dass der Wagen bis auf uns vier leer war.

»Weg«, antwortete Mirjam, die am Steuer saß. Sie drehte den Zündschlüssel und schob den Schalthebel mit einem lauten Ruck in den richtigen Gang. Der Motor heulte laut auf, als Mirjam die Kupplung springen ließ und der Wagen sich nach vorne bewegte.

»Sag mal, hast du überhaupt einen Führerschein?«, rutschte es aus mir heraus.

Ein weiterer eiskalter Blick traf mich. »Beklagst du dich etwa? Sei froh, dass wir dich überhaupt mitnehmen.«

Ich schluckte und beschloss, dass es wohl für den Rest der Fahrt besser war, keine Fragen mehr zu stellen.

MeereswölfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt