Mirjam fuhr, als hätte sie ihren Führerschein bei einem Deal mit dem Teufel gewonnen.
Damit meine ich nicht, dass sie schlecht gefahren wäre. Ganz im Gegenteil: Obwohl der Bus wohl aus dem vorletzten Jahrhundert stammte, holte sie alles aus der alten Blechkiste heraus, was noch irgendwie möglich war. Das Gas durchgedrückt und die Finger ums Steuerrad geklammert, fuhr sie Überholmanöver, bei der selbst The Rock blass geworden wäre. Vielleicht lag es am kaputten Tacho-Zeiger oder meinem empfindlichen leeren Magen, aber mit dem Tempo, das Mirjam an den Tag legte, mussten wir Lichtgeschwindigkeit auf jeden Fall erschreckend nahe gekommen sein.
Nils und Leon schienen den rasanten Fahrstil ihrer großen Schwester gewohnt zu sein, denn keiner von ihnen wirkte in irgendeiner Weise beunruhigt. Während Leon auf seinen Gameboy starrte und mich konsequent ignorierte, durchbohrte mich Nils mit einer Frage nach der andern.
»Du lebst also wirklich auf der Straße?«
»Ich schätze schon«, antwortete ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Isst du aus Mülltonnen?«
»Was?«
»Na, du bist immerhin obdachlos.«
Ich verzog das Gesicht. »Ich bin Straßenkünstler«, erklärte ich. »Meistens kann ich an einem guten Tag gerade genug zusammenkratzen, um mich nicht aus Mülltonnen ernähren zu müssen. Das größte Problem sind die Cops – aber wenn ich regelmäßig die Stadt wechsle, kann ich ihnen eigentlich gut aus dem Weg gehen.« Ich wusste, dass sich das vermutlich schnell ändern würde, sobald es Winter wurde und ich mit der Kälte draußen zu kämpfen hatte. Aber darüber konnte ich mir Gedanken machen, wenn es soweit war.
Etwas hellte sich in Nils' Gesicht auf. »Wir reisen auch ständig herum«, sagte er.
»Seid ihr auf einem Roadtrip oder so?«, fragte ich, auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, dass drei minderjährige Jugendliche ohne ihre Eltern unterwegs waren.
»So was in die Richtung«, antwortete Nils und lächelte. »Was ist mit dir? Bist du von zu Hause weggelaufen?« Ich nickte gedankenverloren, bevor auch schon prompt die nächste Frage kam. »Warum?«
Ich seufzte leise. »Mein Vater ist Alkoholiker und meine Mutter sitzt in der Klapse«, erklärte ich. »Es gibt nicht wirklich einen Ort, an den ich zurückkehren könnte.«
»Oh«, kam es von Nils. Einen kurzen Augenblick lang wurde es still. »Was ist mit ihr passiert? Mit deiner Mutter, meine ich.«
»Hör endlich mit den bescheuerten Fragen auf«, mischte sich Mirjam plötzlich in unser Gespräch ein. »Ich bin nicht wirklich an seiner Lebensgeschichte interessiert. Außerdem ist es unhöflich.«
Ich verkniff mir den Kommentar darüber, wie ironisch es war, dass ausgerechnet Mirjam das sagte, und zwang mich zu einem Lächeln. »Kein Ding«, sagte ich dann.
Nils verstummte augenblicklich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg, als hätte er selbst begriffen, dass er zu weit gegangen war. Dabei hätte ich kein Problem damit gehabt, ihm zu erzählen, was geschehen war. Es war keine wahnsinnig spektakuläre Geschichte, um ehrlich zu sein. Wir waren von einem Irren am Strand überfallen worden, als ich fünf war, und Mom war daraufhin durchgedreht. Ich konnte mich nicht mehr an wirklich viel erinnern. Meine kindliche Fantasie hatte den Psychopathen, der uns angegriffen hatte, in meinem Gedächtnis in ein schattenartiges Monster verwandelt – eine Art Abwehrmechanismus, um die Realität verarbeiten zu können. Doch das Monster hatte mich nie verlassen, verfolgte mich in meinen Träumen und war jeden Tag in meinen Gedanken. Es war nicht real, aber es war die einzige Konstante in meinem Leben, die sich seit jenem Morgen vor zwölf Jahren nicht verändert hatte.
* * *
Irgendwann nach Dämmerung erreichten wir schließlich eine größere Stadt, wo Mirjam auf dem erst besten Parkplatz Halt machte.
»Von hier aus kommst du ja alleine klar«, sagte sie, nachdem sie den Wagen quer über zwei Parkfelder platziert hatte.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich und schnallte mich los. Kalte Nachtluft und der bekannte Gestank der Stadt schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete.
»Schade, dass du schon gehen musst«, meinte Nils. »Vielleicht sehn wir uns ja mal wieder.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete ich, auch wenn ich eher daran zweifelte. Unschlüssig blieb ich auf dem Parkplatz stehen. Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, die Zwillinge von irgendwoher zu kennen?
»Wie lang willst du denn noch dort rumstehen?«, murrte Mirjam.
»Bin ja schon weg«, gab ich zurück und winkte Nils noch ein letztes Mal zu, bevor ich die Tür hinter mir zuschlug. Die Kälte der Nacht ergriff sofort Besitz von mir und durchdrang mich bis auf die Knochen. Immerhin war ich jetzt nicht mehr nass.
Ich ging um den Wagen herum und öffnete die Hintertüren, um mein Gepäck herauszuholen. Nachdem ich mir meinen Gitarrenkasten auf den Rücken geschnallt und die Sporttasche unter dem Arm geklemmt hatte, setzte ich mich in Bewegung und verschwand in der Dunkelheit.
Ich verließ den Parkplatz und folgte der Straße in Richtung Stadtzentrum. Vor einem heruntergekommenen 24-Stunden-Shop, dessen Schaufenster mit flackerndem Neonlicht verziert war, machte ich Halt. Rasch überschlug ich im Kopf, wie viel Geld ich noch zur Verfügung hatte und wie viel davon ich ausgeben durfte, wenn ich auch morgen Abend noch etwas Warmes im Magen haben wollte. Das Resultat war ziemlich niederschmetternd. Mein kleiner Abstecher ans Ende der Welt hatte mich wertvolle Stunden gekostet, in denen ich die Chance verpasst hatte, mir ein paar Cents dazu zu verdienen.
Ich verzog das Gesicht. Nachdem ich schweren Herzens entschieden hatte, das morgige Frühstück ausfallen zu lassen, betrat ich den Laden. Die Verkäuferin – eine dürre Frau mit gefühlt zehn Kilogramm Schminke auf dem Gesicht – sah nur kurz auf und vertiefte sich dann wieder in ihr Smartphone.
Ich senkte den Blick und verschwand hinter ein paar Regalen. Während ich vor der Sandwichabteilung stand und mir überlegte, ob ich lieber Ei oder Schinken wählen sollte, drifteten meine Gedanken unbewusst wieder zu Mirjam und den Zwillingen. Irgendetwas an den Geschwistern war seltsam – mal abgesehen davon, dass sie in einem alten VW-Bus ohne Eltern durch die Gegend fuhren.
Ich schüttelte den Kopf. Wieso dachte ich überhaupt darüber nach? Es war ja nicht so, als ob ich sie jemals wiedersehen würde.
Ich seufzte leise und entschied mich für das Schinken-Sandwich und eine kleine Flasche Mineralwasser. Die Verkäuferin murmelte ein müdes »n'Abend« vor sich hin, als ich meine Ware auf das Förderband legte, und begann sogleich mit Eintippen. Während sie das Sandwich in allen Einzelheiten betrachtete und auf ihrem Display den entsprechenden Knopf suchte, machte ich mich daran, den Geldbeutel aus der Sporttasche hervorzukramen. Ich war mir sicher, dass ich sie ganz oben platziert hatte, gleich unter meinem Ersatzpulli und dem Schlafsack. Doch als ich die Sporttasche öffnete und bemerkte, dass sich der Reißverschluss am oberen Ende gelöst hatte, sank mein Herz in die Hose. Ich suchte und suchte, kehrte das Innere des Rucksacks nach draußen und wühlte wie ein Irrer – aber nichts.
Mein Geldbeutel war weg.

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Meereswölfe
FantasyHinweis: Dies ist eine Leseprobe zu meinem Roman "Meereswölfe", der im März 2018 erscheinen ist. Wenn euch die Geschichte gefällt, dann hinterlässt doch gerne einen Kommentar. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! :-) »Sie sagen, dass dich die Schatten...