Ich erinnerte mich. Während der Bus durch die Dunkelheit fuhr und die Regentropfen in einem unbekannten Rhythmus gegen die Scheiben prasselten, kam alles wieder zurück zu mir. Ein Tsunami aus verdrängten Erinnerungen überschwemmte mich und riss mich zurück zu jenem Tag vor zwölf Jahren, an dem ich meine Mutter verloren hatte. Bilder und Geräusche durchdrangen meinen Verstand wie einen Film, den man nicht mehr ausschalten konnte. Ich sah, wie meine Mutter mich an die Hand nahm und zu der Bucht hinunterführte, die sich in der Nähe unseres alten Hauses befand. Ich hörte sie lachen, fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Für einen Augenblick schien nichts auf dieser Welt die Idylle zerstören zu können, die sich über den Strand gelegt hatte. Nichts – bis auf das Monster.
Von da an riss der Film und in meinem Gedächtnis waren nur noch Erinnerungsfetzen übrig. Die Schreie meiner Mutter. Die Schatten, die das Monster umgeben hatten. Und jene tiefblauen Augen, die mich angesehen hatten, bevor ich das Bewusstsein verloren hatte.
Ich atmete tief durch. Das Innere des Busses war erfüllt von Nils' Keuchen und dem monotonen Brummen des Motors. Mirjam blickte starr auf die Straße. Sie war blass und das ständige Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht war durch einen Ausdruck von Unruhe ersetzt worden. Leon, der sowieso kaum zu sprechen schien, hatte sich die Kapuze seines Pullovers ins Gesicht gezogen und wippte unruhig auf seinem Sitz vor und zurück, während sein Zwillingsbruder – verschwitzt und mitgenommen wie er war – versuchte, zu Atem zu kommen.
Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Mein Schädel pochte wie wild und in mir drin überschlugen sich die Gedanken. Das Monster, Nils' Fähigkeiten, der Kampf – das war alles schon einmal geschehen. Nicht hier und nicht genau so, aber die Ähnlichkeiten waren dennoch erschreckend. Ich hatte das Gefühl, plötzlich wieder der kleine Junge von vor zwölf Jahren zu sein, der zusehen musste, wie seine Mutter von einem albtraumhaften Monster angegriffen wurde; verängstigt und verzweifelt und allein.
Das konnte nicht wahr sein. Ich musste halluzinieren. Träumen. Das Monster, das meine Mutter angegriffen hatte, war nicht real. Eine Illusion, die mein Unterbewusstsein heraufbeschworen hatte, um mich vor der Wahrheit zu schützen und die Gestalt dieses Irren zu verschleiern. Das war es, was sie mir stets eingetrichtert hatten, all jene Psychologen und Therapeuten von damals: Monster waren nicht real. Und irgendwann hatte ich tatsächlich begonnen, ihnen zu glauben.
»Verdammt«, stieß ich aus, nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte. Meine Stimme zitterte unkontrollierbar und mein Herzschlag war völlig aus dem Takt. »Was zur Hölle war dieses... Ding?«
Niemand antwortete. Das Quietschen der Scheibenwischer war das einzige Geräusch, das im Innern des Wagens zu hören war. Die vereinzelten Regentropfen hatten sich in einen wahren Monsun verwandelt, der sich ungebändigt über die Welt ergoss. Es war Mirjam, die als Erste das Wort ergriff.
»Der Schatten«, antwortete sie mit überraschender Ruhe in der Stimme. »Ich weiß nicht, ob dieses Monster einen wirklichen Namen hat, aber... So nennen wir es.«
Ich erschauderte. Allein der Gedanke an dieses unwirkliche, schemenhafte Wesen ließ Übelkeit in mir hochkommen. »Also... war es nicht nur Einbildung«, sagte ich, mehr Feststellung als wirkliche Frage.
»Nein«, antwortete Mirjam, den Blick immer noch geradeaus gerichtet. Ich stieß ein leises Schnauben aus.
»Aber das ist verrückt«, entgegnete ich. »Das kann einfach nicht... so etwas kann unmöglich existieren!«
»Glaub, was du willst«, gab Mirjam zurück und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, dass ich nicht schon mein halbes Leben lang vor einer verdammten Einbildung davonrenne.«
Einen Moment lang blieb ich still und verarbeitete die Worte, die gerade über ihre Lippen gekommen waren. »Dieser Schatten... ist er hinter euch her?«

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Meereswölfe
FantasyHinweis: Dies ist eine Leseprobe zu meinem Roman "Meereswölfe", der im März 2018 erscheinen ist. Wenn euch die Geschichte gefällt, dann hinterlässt doch gerne einen Kommentar. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! :-) »Sie sagen, dass dich die Schatten...