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H A R R Y

Gedankenverloren schlenderte ich durch das riesige, rissige Gebäude, in der Hoffnung ich würde Rachel entdecken. Ich setzte meinen Weg zu den Schlafzimmertüren fort, beziehungsweise zu dem, was davon übrig geblieben ist, und setzte mich leicht angewidert auf den eiskalten Boden. 

Mein Blick schweifte desinteressiert durch den Flur, als ich kleine und große Kreise mithilfe des Staubes auf den Boden malte. Plötzlich hörte ich eine leise, flüsternde Stimme die still meinen Namen rief und mich in das Hier und Jetzt versetzte.

»Harry?« Moment, war das Rachel? 

Ich stolptere die Treppenstufen beinahe herunter, als ich in ein blaues Augenpaar sah, was mich mit großen Augen anschaute. Tatsächlich. Rachel war wirklich hier. 

»Was machst du den hier?«, fragte ich bissig und herablassend, obwohl ich mir innerlich ein kleines Grinsen verkniff. Ich musste kalt zu ihr sein, aber irgendwie war es schwieriger als ich gedachte hatte, denn Rachel machte mich glücklich. 

»Ich, äh, ich hab mir gedacht, dass ich dich besuchen und mal nach dir schauen kann.« Verlegen lächelte sie und spielte schüchtern mit ihren Fingern. Ich musterte sie einmal von Oben bis unten und zog, wie bei unserer ersten Begegnung, meine rechte Augenbraue einwenig provokant nach oben. Sie trug ein blaues Shirt, eine weiße Hotpants mit Nieten und ebenfalls dazu passende, weiße Ballerinas. Ihre glatten Haare fielen ihr offen über die Schulter, jedoch hatte sie noch ein blaues Bandana um ihren Kopf gezogen. Alles in allem sah sie einfach nur gut aus. 

»Äh, ich hab' dir etwas mitgebracht.« Rachel hielt mir eine weiße Plastiktüte entgegen. Prüfend öffnete ich die Tüte desinteressiert und konnte Sekunden später meinen Augen nicht trauen. In ihr lag sehr viel Obst; Äpfel, Birnen, Trauben und auch frische Erdbeeren. Ich konnte ebenfalls eine Box, gefüllt mit ein bisschen Fleisch und anderen Leckereien, erkennen. Ebenso befanden sich ein paar Wasserflaschen in der Tüte. Als ich meinen Kopf verblüfft hob, sah ich wie Rachel gerade in ihren BackPack- Rucksack griff und ein paar saubere Shirts und Pullover, ein paar Hosen sowie Schuhe und Socken aus diesem herauszog. Diese reichte sie mir ebenfalls lächelnd. 

»Ich weiß gar nicht so Recht, was ich sagen soll.« Ich geriet völlig ins Stocken und merkte, wie meine rücksichtslose und kalte Fassade bröckelte, deshalb hörte ich direkt auf zu Grinsen und verzog meine Lippen zu einem schmalen Strich. Die Freude in meinen Augen verschwand ebenso, weswegen ich sie nur kalt ansah. »Danke, auf jeden Fall.«

Innerlich war ich umso glücklicher. Ich hatte schon lange nichts mehr geschenkt bekommen. Ich musste mir schon in den Kindheitszeiten alles selber erarbeiten, deshalb war ich umso verwunderter, als Rachel, eine völlig fremde Person, gerade mir ein paar Dinge schenkte. 

»Kannst du d-dich vielleicht auszieh-? Äh, nein, kannst du vielleicht d-dein T-Shirt ausziehen?« Rachel kam fing an laut zu stottern und wurde urplötzlich total Rot im Gesicht. Irgendwie süß. »Ich muss deine, äh, W-Wunden versorgen.« Ich sah wie Rachel mich einfach nur peinlich berührt anschaute und auf den Boden blickte. Ich grinste. 

Als ich mein T-Shirt ausgezogen hatte, schaute Rachel mich völlig entsetzt an. Mein Körper war übersät von Narben und tiefen Verletzungen, deshalb wunderte mich ihre Reaktion nicht. »Oh, gott.« Ich lächelte schwach. Jede von den Narben an meinen Körper hatte ihre eigene, tragische Bedeutung. Quer über meinen Bauch hinweg prägte mich beispielsweise eine lange, hässliche Narbe, die zustande kam, als ich gerade einmal fünfzehn Jahre alt war. Ich lebte damals auf der Straße, in vielen Seitengassen von London und wurde dort von ein paar alkoholisierten Jugendlichen geschlagen und beschimpft. Am schlimmsten waren jedoch ihre Worte, die mich damals ziemlich verletzt und getroffen hatten. 

"Du bist ein kleiner, wertloser, hässlicher Hurensohn. Du ungeliebter, widerlicher Hund verdienst es gar nicht, zu leben.« Heute würden mich diese Worte vermutlich nicht mehr verletzen, ich würde lachen oder sie einfach ignorieren, doch als fünfzehnjähriger war ich schwach und schenkte den Worten großen Glauben. Zu dem Zeitpunkt lebte ich dazu auch noch erst seit kurzem auf der Straße, jedoch schwor ich mir bis heute, dass ich irgendwann Rache nehmen würde. An allen, die mich verletzt hatten.

Eine andere Narbe zierte meinen linken Arm. Dort hatte man mehrere glühende Zigaretten auf meiner Haut ausgedrpckt. Auf dem anderem, rechten, Arm hatte man mir mehrere Schnittwunden mit einem spitzen Messer zugefügt, indem man dieses tief in meine Haut schnitt. All diese Verletzungen prägten mein jetziges Leben und machten mich zu dem Menschen, der ich heute bin. Durch sie habe ich gelernt, stark zu sein und mein Leben mit dem wenigen, was ich habe, zu genießen. Ich wusste nämlich, dass ich hätte schlimmer enden könnten. 

Zurück in der Realität sah ich immer noch Rachel, die mich weiterhin besorgt anschaute und behutsam über meine Narben strich. Ich sah eine leichte Neugier in ihren Augen, jedoch traute sie sich sicher nicht, mich nachzufragen, woher ich all die Verletzungen hatte. Vielleicht war das ganze auch besser so. 

»Setz dich bitte, es wird ganz, ganz kurz wehtun, aber danach wird es dir garantiert besser gehen. Indianerehrenwort.« Ich schmunzelte kurz über ihre Wortwahl und nickte ihr kurz darauf zu. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie einen Verbandskasten in ihren Händen hielt und diesen schwungvoll öffnete. Ich schloss meine Augen für einen kurzen Moment, bis ich ganz unerwartet einen starken Schmerz in meinem ganzen Körper spürte. Zähneknirschend und fäusteballend schlug ich meine Augen weit auf und stöhnte schmerzerfüllt. »Shh, warte, wir sind gleich fertig.« Ich nickte abwesend und versucht mich nicht weiter auf den Schmerz zu fixieren und mich andersweitig zu beschäftigen.

Tatsächlich linderte sich der Schmerz wenige Minuten später ein wenig, trotzdem leidete ich noch immer ein wenig und verzog mein Gesicht schmerzverzerrt.

»Danke.«, keuchte ich nur und setzte mich leicht auf. 

»Kein Problem. Harry, darf ich dich was fragen?« Ich nickte zustimmend und wartete gespannt auf ihre Frage. Wahrscheinlich war es aber sowieso etwas viel zu persönliches, was ich ihr niemals anvertrauen würde. 

»Wie alt bist du eigentlich?« - »Dreiundzwanzig.« - »Ich bin neunzehn.«, führte sie fort um unser Gespräch aufrechzuerhalten. Ich grinste ein wenig vor mich hin. 

»Und, ähm, wieso lebst du hier?«, wagte sie einen neuen Schritt. Prompt fiel mir ein, dass ich eine gewisse Distanz zu ihr erhalten musste. Persönliche Fragen waren tapu. 

»Das sollte dich nicht interessieren.«

Stille. 

Ich wusste, das Rachel ein wenig traurig war, da sie nicht zu mir eindringen und meine aufgebaute, fiktive Schutzmauer durchbrechen konnte. Vielleicht würde sie es irgendwann schaffen, aber sicherlich nicht heute. Sie würde mich doch sowieso niemals verstehen. Keiner von ihnen würde das jemals tun.

R A C H E L

Harry war kein gesprächiger Mensch. Nachdem ich seine Wunden gesäubert und zugenäht hatte, versuchte ich ein bisschen mehr über ihn herauszufinden. Dies stellte sich jedoch schwerer heraus, als ich Anfangs dachte. Harry war ziemlich verschlossen, wie ich merkte, denn er verriet beinahe gar nichts über sich und war sehr kalt mir gegenüber. Irgendwie verletzte es mich, aber was hatte ich erwartet? Dass er mir glücklich in die Arme lief? Sicherlich nicht.

Ich wollte dennoch nicht aufgeben und ihm weiterhin helfen. Ich meine, erkonnte doch nicht jahrelang in einem stickigen, alten und versifften Gebäude voller Ratten und Mäuse wohnen und sogar überleben? Er aß und trank meiner Meinung nach sowieso viel zu wenig, das hatte er mir heute ein weiteres Mal bestätigt, denn nachdem ich ihm die Tüte gegeben hatte, hatten seine Augen voller Freude gestrahlt, jedoch verschwand dieser Blick binnen weniger Sekunden. Trotzdem brauchte er Hilfe, ich war mir sicher, dass er dass alles nicht alleine schaffen würde. Er war stark, ja, aber war er wirklich so stark, wie er zu vermuten glaubte?

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