»Ignorier die dummen Sprüche gegen mich.«

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Inzwischen war es fast drei Wochen her, dass ich aus dem Krankenhaus gekommen war und seitdem war Stegi fast jeden Morgen vorbeigekommen und hatte mir geholfen, mich fertig zu machen. An den meisten Tagen war er auch nach der Schule wieder hier gewesen und inzwischen hatte ich echt ein schlechtes Gewissen, was er alles - ohne eine Gegenleistung zu erwarten - für mich tat. Meine Eltern halfen dabei auch nicht gerade - sie waren nämlich von den regelmäßigen Hilfsbesuchen meines Freundes nicht sonderlich begeistert. Schon mehrmals hatte ich mir anhören dürfen, dass ich ihn nur ausnützen würde und das ein unmögliches Verhalten von mir wäre. Ein Mal hatte mein Vater eine Pflegerin bestellt, die eines morgens nur Minuten vor Stegi an der Tür gestanden hatte und von der ich mir auf ein Mal helfen lassen sollte. Ich war zugegebenermaßen ziemlich ausgetickt, aber alleine der Gedanke daran, mich von dieser fremden Frau Mitte Fünfzig ausziehen zu lassen, hatte mich so angeekelt, dass ich am liebsten mein Frühstück wieder hervorgewürgt hätte - einfach der Dramaturgie wegen.

Stattdessen hatte ich mich aber bloß schlichtweg geweigert, mich von ihr anfassen zu lassen und war wenig später mit dem auf ein Mal in der noch offenen Tür auftauchenden und sichtlich ziemlich verwirrten Stegi in mein Zimmer verschwunden.

Das war auch das erste Mal gewesen, dass ich ihn geküsst hatte - mit Wut im Magen und dem dringenden Verlangen, mir selbst beweisen zu wollen, dass ich ihn nicht nur ausnutzte. Stegi hatte den Kuss relativ schnell wieder verwirrt abgebrochen - doch auf seine Frage, warum ich das getan hätte, hatte ich auch keine Antwort, außer bloß immer wieder mein Versprechen zu wiederholen, ihn nicht ausnutzen zu wollen.

Wir waren dann ziemlich schnell einfach wieder dazu übergegangen, so zu tun, als wäre der Kuss nie geschehen und hatten gemeinsam beschlossen, dass es besser wäre, würden meine Eltern Stegi näher kennen lernen. Von da an verbrachte er also zusätzlich noch die meisten Abende bei uns, um mit uns zu essen und ich hatte irgendwann wirklich das Gefühl, als würde er bei uns wohnen.

Die Schuldgefühle wurden dadurch natürlich nicht besser, und Stegi war der Einzige, der immer wieder beteuerte, dass er das alles nicht tun würde, würde er es nicht wollen.

Wenige Wochen später erfuhr ich auch, warum.

Es war ein Wochenende, an dem Stegi sogar bei mir schlief und wir lagen wie so oft nebeneinender im Bett, als der blonde Junge vollkommen aus dem Nichts auf ein Mal zu erzählen begann.

Er berichtete von seinen Eltern, die scheiße homophob waren, seinem Outing, bei dem er irgendwie trotzdem gehofft hatte, dass es nicht so schlimm werden würde und wie es seitdem jeden Tag Streit gab, sobald er Zuhause war. Dass er deswegen eigentlich ganz froh war, so viel Zeit hier bei mir verbringen zu dürfen.

Dieses Mal war ich es gewesen, der Stegi in den Arm genommen hatte und nicht umgekehrt und das fühlte sich seltsam gut an. An diesem Abend hatten wir uns zum zweiten Mal geküsst - und dieses Mal war auch Stegi einfach darauf eingegangen, ohne lange nachzudenken.

Dieser zweite Kuss war schließlich der ausschlaggebende Punkt, der mich dazu brachte, zu hinterfragen, ob ich wirklich hetero war - was schließlich damit endete, dass ich zwar keine Lösung für diese Frage fand, aber beschloss, dass es auch gut war, so wie es war. Stegi war mein bester Freund und über alles, was sonst passierte, wollte ich am liebsten nicht zu viel nachdenken.

Jetzt, nach seinem Geständnis, verbrachte Stegi sogar noch mehr Zeit bei uns, übernachtete auch unter der Woche ab und zu hier und nachdem auch meine Eltern sich irgendwann an ihn gewöhnt zu haben schienen, schaffte ich es, ihn zu überreden, ihnen von seinen eigenen Erzeugern zu erzählen.

Zwar hatte ich kein sonderlich großes Vertrauen in die Kompetenzen dieser Menschen als Eltern - allerdings waren sie fair und offen, weshalb genau das geschah, auf das ich gehofft hatte:

Meine Eltern boten an, mit Stegis Familie zu reden, dass er ganz bei uns einziehen konnte: »Einen großen Unterschied würde es eh nicht mehr machen«

Als Stegis Eltern schließlich tatsächlich zustimmten, machte er Freudensprünge und warf sich mir regelrecht in die Arme - und auch ich war wahnsinnig froh über das Aufgehen meines Plans.

Stegi bezog mein ehemaliges Zimmer im ersten Stock und half mir weiterhin jeden Morgen vor der Schule, mich fertig zu machen, bevor er zum Unterricht ging und ich versuchte, den verpassten Stoff der letzten Monate so gut es ging Zuhause nachzuholen. Auch dabei half Stegi mir natürlich - wofür ich ihm unglaublich dankbar war.

Mit seiner Hilfe schaffte ich es tatsächlich, das Meiste zumindest halbwegs nachzulernen - und durfte irgendwann sogar wieder zurück in meine alte Stufe - zwar auf Probe, aber immerhin.

Als ich den ersten Morgen früher aufstand, um mich zusammen mit meinem besten Freund und mit dessen Hilfe fertig zu machen, konnte ich vor Aufregung kaum meine Hände still halten - was den Kleineren immer wieder zum Lachen brachte und mich dadurch zum Grinsen. Ich liebte Stegis Lachen.

Stegi bot an, uns mit dem Auto zu fahren, das er sonst seit er bei uns wohnte wegen des kurzen Weges meistens stehen ließ, ich jedoch lehnte ab. Es war viel zu umständlich, mich und den Rollstuhl ins Auto und nur wenige hundert Meter darauf wieder raus zu befördern - in der Zeit waren wir locker zu Fuß da. Außerdem würde das wahrscheinlich zumindest ein bisschen weniger Aufmerksamkeit erregen.

Auf dem Weg unterhielten wir uns eigentlich ganz normal und ich schaffte es sogar, meine Aufregung eine Zeit lang zu vergessen - bis das Schultor in Sichtweite kam.

Ich spürte Stegis Hand auf meiner Schulter, die sie kurz beruhigend drückte.

»Bleib entspannt. Lass dir von niemandem etwas sagen und ...«, er zögerte kurz, »Ignorier die dummen Sprüche gegen mich.«

Augenblicklich ließ ich meinen Rollstuhl anhalten - und sah erschrocken zu meinem besten Freund auf.

»Wie? Stegi, was ist los? Wirst du gemobbt?«

Stegi verdrehte bloß die Augen.

»Quatsch. Einige meinen halt, besonders cool zu sein, wenn sie in großer Gruppe irgendwelche dummen Sprüche ablassen. Aber mir ist das relativ egal.«

Ich schluckte. Warum hatte er davon nie etwas erzählt?

»Wer?«

Stegi schien das wirklich unangenehm.

»Naja ... Rafi, Tobi und so ...«

Augenblicklich spürte ich Wut in mir aufsteigen. Klar, Stegi hatte noch nie zu den Beliebten gezählt und auch meine Freunde hatten ihn nie wirklich gemocht - aber dass er dem die ganze Zeit ausgesetzt gewesen war, während er mir geholfen hatte, mein Leben wieder lebenswert zu finden, fühlte sich an, als hätte ich unsere Freundschaft verraten.

Change a Life ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt