- E.I.G.H.T -

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Um sieben Uhr gingen Kaja und Elli. 
Elli konnte sich nicht zurückhalten und meinte nochmal wie leid es mir tät, dass sie gegangen wäre. Woraufhin ich auch nicht mehr machen konnte als die Augen zu verdrehen und leicht zu lächeln.
Hier saßen wir dann, ich und Philipp. Ich war diejenige die die Stille brach.
"Eigentlich wollte ich heute mit Kaja diesen Nachmittag rausgehen, aber...naja es kam dann ja anders. Willst du vielleicht mit raus kommen?"
"Jetzt? Ja, warum nicht", meinte er. Ich erwähnte nicht, dass ich eigentlich nur einen Vorwand brauchte, um mehr über ihn rauszufinden.
Philipp schnappte sich schnell den Rollstuhl, der immer noch im Raum stand und stellte ihn neben mein Bett.
"Die Dame", grinste er und deutete mit einer übertrieben eleganten Bewegung auf den Rollstuhl.
"Ha-ha!", gab ich trocken von mir, aber ich musste trotzdem grinsen.
Als wir durch den Flur fuhren fing ich mit meiner Befragungstour an.

"Was ist das eigentich mit dir und der Medizin? Also ich meine, woher weißt du alles über eine Lungenembolie und ihre Therapie?"
"Erstens ist mein Vater ein Chirurg, ich denke das trägt schon mal ganz gut dazu bei. Außerdem interessiere ich mich selber total dafür. Ich möchte nach der Schule Medizin studieren und dann eventuell an der Charité arbeiten. Mal gucken, ob ich es dann soweit bringe."
Wow. Das hörte sich nach einem Plan an.
"Das ist ziemlich cool und ich bin sicher, dass du es schaffst! Wenn du allerdings so langsam lernst, wie du mich hier gerade schiebst, dann wohl eher nicht!", fügte ich verschmitzt hinzu.

"Ich glaub's nicht", lachte Philipp hinter mir."Du wirst schon sehen wie schnell ich laufen kann"
Ich drehte mich kurz zu ihm um und schaute ihn herausfordernd an, indem ich eine Augenbraue hochzog.
"Ach ja? Ich wette wir sind nicht in sieben Sekunden da hinten am Aufzug!", machte ich die Wette auf und zeigte an das Ende des Ganges."
Jetzt zog Philipp auch eine Augenbraue hoch und sah mich ernst an. Wäre da nicht das Zucken in seinen Mundwinkeln und das leichte Funkeln in seinen Augen, hätte ich ihm die Ernsthaftigkeit abgenommen.
"Und ich sage, wir sind in fünf Sekunden da. Hier nimm mal mein Handy und mach den Timer an."
Ich nahm das Handy lachend entgegen und machte mich bereit auf das Display zu tippen.
"Abgemacht"
"Abgemacht!"
Dann startete ich den Countdown, nicht ohne nochmal nachzusehen, ob der Gang auch wirklich frei war.
"Drei...zwei...eins...LOS!"
Und als ich los sagte, drückte ich auch gleichzeitig auf Start um den Timer zu starten.

Und Philipp war wirklich schnell. Der Gegenwind blies mir ins Gesicht und...oh man! Es machte so Spaß! Wir rasten an den Zimmern vorbei und ich war nur froh, dass uns gerade keine Krankenschwester sah.
Die Türe, neben der der Aufzug war kam immer näher und ich hatte schon fast Angst, dass Philipp nicht bremsen würde, aber dafür war ich zu entspannt. Ich vertraute ihm.
"Stooop!", schrie Philipp und stoppte meinen Rollstuhl mit einer scharfen Bremsung und ich stoppte den Timer.
"Und?", fragte Philipp nun neugierig. Er klang nicht mal außer Atem. Was zur Hölle.
"Jetzt sag schon!", er war so ungeduldig, dass er mir fast das Handy aus der Hand riss.
"Jaja, ich mach ja schon!", ich kam nicht mehr aus dem Grinsen raus. Es wurde noch breiter, als Philipp sich nah über mich lehnte.
"6,28 Sekunden! Das heißt es ist unentschieden!"
"Naja, es ist knapp. Du hast gewonnen.", sagte er gespielt traurig.
"Ja, aber nur um 28 Millisekunden, kleiner!", meinte ich und tat so, als würde ich ihn trösten.
"Kleiner? Ich bin aber schon voll groß!", sagte er im Kleinkind-ton.
"Okay!", gebot ich dem Ganzen Einhalt, "Wir sollten aufhören so zu tun, als wären wir Mutter und Sohn!"Ich grinste breiter.
"Okay, mom!"Er grinste nun auch breiter.
Ein Blick genügte und es gab kein Halten mehr. Ich hörte nicht auf zu lachen, bis ein altes Ehepaar plötzlich aus dem Fahrstuhl ausstieg und wir Platz machen musste, weil wir direkt davor standen.

Selbst im Aufzug kicherten wir weiter.
Aber als wir draußen waren und auf eine Bank auf dem Gelände zusteuerten wurde ich schon was ernster. Meine Befragungstour musste fortgeführt werden.
Wir gingen (und fuhren) gerade an einem der wenige Büsche entlang, als ich wieder anfing.

"Und wie ist das so mit deinen Brüdern? Ist es lästig zwei Brüder zu haben, die einem auf das Haar genau gleichen?"
Es war total lästig ihn nicht angucken zu können.
Aber ich wettete er fuhr sich gerade durch die Haare.
"Also ich liebe meine Brüder natürlich, aber manchmal gibt es da schon Stress, wenn Fred behauptet der Trasher Pulli wäre seiner, obwohl es eigentlich der von Kilian war und niemand kann das bezeugen, wie meine Eltern achten jetzt nicht sonderlich darauf was wir anhaben."
"Was? Als ob das schon mal passiert ist! Bei Mädchen wäre das wahrscheinlich genau andersherum. Die würden sich  liebend gerne ihre Sachen gegenseitig austauschen."
Eine kurze Pause entstand.
"Und wie ist das mit dem Auseinanderhalten?"
"Das ist schon eine lustigere Sache."
Wir kamen an der Bank an und Philipp parkte mich daneben und setzte sich neben mich, auf die Bank. Man konnte jetzt auf das Feld hinter dem Krankenhaus gucken.
"Meine Eltern sind bisher die Einzigen, die uns zu hundert Prozent auseinander halten können.
Die Lehrer zum Beispiel sind immer sehr verwirrt und wir haben es auch schon oft gebracht einfach den anderen in eine Klausur zu schicken, wenn er in dem Fach besser ist." Als ich ihn anschaute grinste er, aber als er weiter sprach erlosch es.
"Aber manchmal ist es auch...sagen wir ein Verhängnis. Meine Ex hat sich nem anderen um den Hals geworfen. Heißt im Klartext: Sie war bei uns zu Hause und dann kam Fred rein und sie dachte Fred wäre ich. Er hatte sogar was anderes an, als ich."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und überlegte kurz.
"Oh...das tut mir leid!"
"Danke, ist aber schon gut. Ich dachte nur einfach, dass sie mich liebt und mich von den anderen beiden unterscheiden kann. Sie hätte sich im Grunde genommen auch nem wildfremden an den Hals werfen können...Aber genug davon. Nächste Frage!"
Und da war wieder das Grinsen. Anscheinend war da mehr hinter.

Ohne weitere Umschweife machte ich einfach mit der nächsten Frage weiter.
"Als was arbeiten deine Eltern? Beziehungsweise deiner Mutter?"

"Also mein Vater ist, wie du schon weißt Chirurg und meine Mutter arbeitet als Kindergärtnerin. Vorher war sie Anwältin, aber sie hat den Job gehasst und da mein Vater mehr als genug verdient wollte sie lieber was machen, was ihr gefällt."
"Ich würde es wahrscheinlich auch nicht aushalten...nix für mich!", meinte ich grinsend.
"Ja, same!"
Es war jetzt schon fast dunkel. Warum freute ich mich so auf die Sterne?
"Hey, also du musst jetzt nicht antworten, aber ich bin einfach zu neugierig." Philipp legte kurz eine Pause ein um mich eindringlich anzuschauen. Ich wusste nicht genau worauf er hinaus wollte. 
"Also deine Eltern...wo waren sie? Ich habe immer nur deine Tante gesehen. Aber ich meine es kann natürlich sein, dass sie immer da waren als ich nicht da war..."
Und da war er wieder. Der Druck auf der Brust, wie ein Knoten bemerkte ich auf einmal.
"Also...meine Eltern...die-" ich musste mich kurz selber unterbrechen, damit ich durchatmete.
Plötzlich nahm Philipp meine Hand und meinte: "Hey, du musst mir das nicht erzählen!"
"Doch!", erwiderte ich entschlossen. Vielleicht löste sich ja dann der Knoten.
"Meine Eltern gibt es eigentlich gar nicht!", sagte ich leise und ich merkte schon wie die tränen hochkamen.
"Eigentlich sind meine Eltern für mich so gut wie tot!", und die erste Träne floss.
Da kam mir eine Idee und ich zog mein Handy aus der Tasche und öffnete mein Emailpostfach.
Ich öffnete die, die ganz oben zu sehen war und reichte mein Handy Philipp.
Ich sah ihn von der Seite an und sah wie seine Augen sich immer von links nach rechts bewegten und sein Blick immer ungläubiger wurde.
"Seit ich acht bin habe ich meine Eltern nur über skype gesehen und vielleicht mal auf irgendwelchen sehr wichtigen Festen. Es juckt sie überhaupt nicht was ich tue. Ich könnte sterben und...-"-ich schluchzte auf,"-es würde sie nicht dazu bewegen nach Deutschland zu gehen und ihre Tochter zu beerdigen!"
Jetzt weinte ich richtig. Das war das erste Mal, dass ich wirklich richtig Tränen vergoss.
Aus dem Augenwinkel sah ich wie Philipp aufstand und sich die Haare raufte. Er sah wütend aus.
"Ich...es tut mir leid! Ich wollte dich nicht irgendwie zulabern mit irgendwelchen unnötigen-"
Da hatte sie Philipp vor mich gekniet und wischte mir die Tränen weg.
"Du spinnst doch! Also ich meine deine Eltern spinnen, aber das ist doch kein unnötiges Zeug!"
Der Knoten löste sich weiter.
Ich konnte vor lauter Tränen nicht mehr viel sehen.
Plötzlich merkte ich, wie ich hochgehoben wurde.
Ich wischte mir über die Augen,damit ich wenigstens ein bisschen sehen konnte.

Philipp trug mich gerade aus meinem Rollstuhl und setzte sich mit mir auf die Bank.
Ich saß gerade auf Philipps Schoß!
Er nahm meinen Kopf mit einer Hand und drückte mich sanft gegen seinen Oberkörper.
Ich würde sein ganzes T-Shirt voll heulen.
"Shhhh..."
Philipp strich sanft über meinen Kopf und ich fühlte mich wie elektrisiert unter seinen Berührungen.
So saßen wir eine ganze Weile da.
Ich, ein schluchzendes Wrack und mein Retter.
Ach du scheiße! Warum hatte ich so komische Gedanken.

Als der Druck auf der Brust weg war konnte man die Sterne sehen.


Sober✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt