Mittwoch

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Nach dem Frühstück muss ich wie gewohnt eine kleine, rote Tablette nehmen. Malcolm verrät mir nicht, was es für ein Medikament ist. Er sagt schlicht: „Danach wird es dir besser gehen." Doch nach all den Jahren habe ich aufschnappen können, womit sie mich vollpumpen. Es ist Ciatyl-Z. Für meine „manischen" Phasen. „Mund auf!", ordnet Weißkittel Malcolm an. Er sieht mir beim Schlucken zu. Anschließend schaut er mit einer kleinen Leuchte in meinen Mund, um sicherzustellen, dass ich die Tablette nicht unter meiner Zunge versteckt habe. Ich hasse es, sie nehmen zu müssen. Danach fühle ich mich oft stundenlang wie in Watte gehüllt. Ich kann mich auf nichts wirklich konzentrieren und meine Zeichnungen werden nie so, wie ich sie gern hätte.

Ich gebe Malcolm Bescheid, dass ich ein bisschen schlafen möchte. Er nimmt mir die Zwangsjacke ab, und wenn ich im Bett liege, zieht er die Schnallen um Hände, Bauch und Füße an. Das tut er immer, wenn ich schlafen gehe. Denn sobald ich die Augen schließe, beginnen die Albträume. Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Nebenwirkung des Medikaments oder doch meines Wahnsinns sind. Aber wenn sie beginnen, dann fühle ich nichts als nackte Angst. Ich schreie und schlage wild um mich. So lange, bis die Lampe neben meinem Bett rot aufblinkt und Weißkittel Malcolm in mein Zimmer gerannt kommt. Ich versuche mich an seinem väterlichen Blick festzuhalten. Mein Betreuer zieht einen Hocker zum Bett heran und singt ein Schlaflied, damit ich mich wieder beruhige.

Auch dieses Mal ist es nicht anders. Kaum umhüllt mich die Dunkelheit, steht meine Mutter wieder vor mir. Ihr Blick ist anklagend und ihren Mund hat sie zu einem Strich zusammengepresst. „Yuri, deine Haare bedecken schon wieder die Ohren. Ich werde sie schneiden. Wir wollen doch nicht, dass jemand denkt, du wärst ein Mädchen", bestimmt sie. Meine Augen füllen sich mit Tränen. „Aber Mama, ich bin doch ein Mädchen. Bitte nimm mir nicht meine Haare, ich möchte sie lang tragen." „Schweig!", zischt sie, „Mädchen haben keine Jungennamen und tragen keine Hemden." Sie schleift mich ins Badezimmer und verschließt die Tür hinter uns. Meine Mutter nimmt die Schere in die Hand und will sie an der ersten Strähne ansetzen. Ich weine und schlage ihre Hand weg. Ihre Hand trifft meine Wange. „Reiß dich zusammen, Yuri. Ich habe dich nicht zu einer Heulsuse erzogen", sagt sie, während mein Haar zu Boden fällt.

Ich wache schweißgebadet und mit tränenverschmiertem Gesicht auf. „Malcolm?", möchte ich rufen, doch bringe lediglich ein mattes Flüstern zustande. „Ich bin hier", erklingt es. Ich schiele in die Richtung, aus der die Antwort gekommen ist. Er sitzt am Fußende meines Bettes. „Sie hat", setze ich an, aber meine Stimme bricht. „Ich weiß, aber sie kommt schon lange nicht mehr. Sie wird dir nicht mehr wehtun." „Warum hört es dann nicht auf?" Ich kämpfe mit den Tränen, aber sie drücken sich rücksichtlos an die Oberfläche, bis sie in kleinen Fluten mein Gesicht herunterstürzen. „Sie wird mich nie so lieben, wie ich bin." Die Wahrheit schießt einen Pfeil durch meine Brust. „Yuri", sagt Malcolm eindringlich. „Niemand wird mich jemals lieben." Ich schaue an die Decke und wünsche mir, dass dieser Ort all mein Leid absorbieren würde, wie er es mit meiner Freude getan hat. „Sag das nie wieder!" Zu meiner Verwunderung ruht eine Träne auf Malcolms Wange. „Warum weinst du?", frage ich. Er beantwortet meine Frage nicht. Stattdessen wischt er sich energisch die Träne weg und sagt: „Du bist so viel mehr, als die Tochter deiner Mutter." Darauf weiß ich nichts zu erwidern. Wir verbringen die nächsten Minuten in Stille. Nachdem mein Herzschlag sich beruhigt hat, werde ich vom Bett losgeschnallt. Ich stelle mich vor das einzige Fenster meines Schuhkartons. Seine Größe ist erstaunlich gering, genau wie der Rest dieses Zimmers. Durch die Löcher im Gitter kann ich draußen mit Mühe einen Streifen Wiese und grauen Himmel ausmachen. Weißkittel Malcolm hat mir einmal erzählt, dass die Fassade des „psychiatrischen Erholungszentrums" rosa ist. Der rosa Käfig, ist das nicht treffend?

Sie haben mich in einen verdammten Schuhkarton hinter rosa Mauern gesperrt, um mich vor der Welt zu verbergen. Aber was kann ich schon anrichten? Ich bin doch nur ein kleines Mädchen auf einem Schaukelpferd.

Nachmittags kommt Doktor Roth zu unserer Mittwochssitzung vorbei. Sie sagt, ich mache Fortschritte. Nur weil ich Schwester Susanna heute nicht die Haare ausreißen wollte. Ihren Optimismus muss man der Frau echt zu Gute halten. Trotz mangelnder Kompetenz mag ich Doktor Roth. Mit ihren scheußlich-schrillen Hawaiihemden ist sie der Farbklecks dieser Anstalt.

Doktor Roths Besuch lässt mich ein wenig lächeln, doch davon abgesehen ist heute ein düsterer Tag: Es ist mein Jahrestag. Seit zehn Jahren bin ich im rosa Käfig gefangen. Seit zehn Jahren habe ich die Sterne nicht mehr gesehen. Seit zehn Jahren habe ich die Sonne nicht mehr auf meiner Haut gespürt. Vor zehn Jahren habe ich Vater das letzte Mal gesehen. Vor zehn Jahren habe ich das letzte Mal gelacht. Seit zehn Jahren trage ich eine Zwangsjacke.

Vielleicht bin ich einfach zu verkorkst für diese Welt. Ein Mängelexemplar der Gesellschaft. Ein gescheitertes Experiment der Evolution. Ein Fehler.

Ja, vielleicht bin ich nichts als ein verdammter Fehler.

Vielleicht - wie ich dieses Wort hasse. Aber „vielleicht" ist meine einzige Antwort.

Der rosa KäfigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt