„Morgen, Weißkittel Malcolm!", begrüße ich ihn am nächsten Tag, als er kommt, um unsere Tagesroutine zu beginnen. Malcolm schaut ein wenig verwundert, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich schon wach bin. Aber dann lächelt er. „Guten Morgen, Zwangsjacke Yuri!" Mich stört es nicht, dass er mich so nennt. Denn ich bin seine Lieblingszwangsjacke und ich mag seinen Humor.
„Wie geht's dir heute?", fragt er mich. Es ist ein ganz besonderer Donnerstag, ich erwarte nämlich hohen Besuch. Es kommen mehrere Schwarzkittel vom Gericht, um mit den Weißkitteln der Psychiatrie zu bereden, wie lange ich noch in diesem Käfig sitzen werde. Die Entscheidung über meine Zukunft haben sie vor einer Woche gefällt. Meine Mutter war anwesend und soll mit dem Entschluss der Schwarzkittel einverstanden gewesen sein. Es erstaunt mich, dass sie es geschafft hat, die Weinflasche einmal beiseitezustellen.
„Ich warte seit Jahren auf diesen Tag", beginne ich. „Doch jetzt habe ich Angst vor dem, was mich erwartet. Ich hoffe, dass sie mehr in mir sehen, als nur eine Verrückte." Malcolm grinst. „Ach Yuri, von all den Verrückten hier, bist du die Normalste." „Danke", erwidere ich ehrlich. Er holt die rote Tablette hervor und legt sie mir auf die Zunge. In dem Moment, in dem ich sie herunterschlucken soll, poltert es laut auf dem Flur. Weißkittel Malcolm dreht sich irritiert um. Schnell schiebe ich die Tablette zwischen Wange und Zähne. Dort wird er sie nicht bemerken. Nicht einmal eine Sekunde später hat mein Betreuer sich wieder umgedreht. Er leuchtet in meinen Mund und setzt einen zufriedenen Gesichtsausdruck auf, als er das Ciatyl-Z nicht findet. Bevor er nach dem Frühstück geht, ordnet er noch an: „Benimm dich, wenn deine ‚Schwarzkittel' kommen." Als er weg ist, fühle ich mich schlecht, ihn hintergangen zu haben. Aber bei einem so wichtigen Besuch will ich klar im Kopf sein und nicht vollkommen benommen die Hälfte von dem verpassen, was die Schwarzkittel sagen.
Es ist Mittag, als sie in mein Zimmer kommen. Sie sehen aus, wie ich sie mir vorgestellt habe: Schwarz gekleidet, mit faltigen Gesichtern und schütterem Haar. Nur eine Frau grenzt sich von ihnen ab. Sie ist jung und hat goldene Locken. So schön. Ich will sie ihr ausreißen und als Perücke tragen. Ich kann mir schon vorstellen, wie die Spitzen sanft meinen Rücken streicheln und ich mit den Fingern durch das Haar fahre. Herrlich, dieses Gefühl! Schnipp, schnapp, Haare ab, schnipp, schnapp. Ich will sie so gerne haben, doch ich muss mich beherrschen. Ich möchte eines Tages frei sein.
Die Schwarzkittel kommen langsam auf mich zu. „Hallo, Yuri", grüßt mich die junge Frau. „Hallo, hallo, meine Damen und Herren", grüße ich zurück. Scheiße, zu aufgekratzt. Ich lächle panisch. Schweiß rinnt mir die Stirn hinunter. „Fühlst du dich hier wohl?", erkundigt sich ein grauhaariger Mann. „Hervorragend geht es mir hier, danke sehr!" Meine Stimme überschlägt sich. Die Schwarzkittel wirken zunächst irritiert, lächeln dann aber zögerlich. Sie stellen mir noch einige belanglose Fragen und ziehen sich danach, zur Einschätzung meiner Situation, in eine Ecke zurück. Kurz darauf lächelt die Blonde wohlwollend und hält den Daumen hoch. Ich will lachen, bald heißt es nie wieder Schuhkarton! Doch ich kann nicht. Ich werde immer unruhiger und schwitze die Jacke durch. Ihr Lächeln, es sieht so bezaubernd aus, umrahmt von dem goldenen Haar. Ich muss es haben! Es bricht aus mir heraus.
„Meins, meins, meins!", kreische ich und stürze auf die Frau zu. Voller Euphorie springe ich auf ihren Rücken und will an dem fließenden Gold ziehen, doch der Stoff meiner Zwangsjacke will nicht nachgeben. Sie schreit. Die Weißkittel eilen herbei. Sie zerren mich grob von ihr herunter. „Nein, mein wunderschönes Haar!", heule ich und winde mich hin und her. Aber sie haben mich eisern im Griff. Entschlossen legen sie mich auf das Bett und schnallen mich an. Ihre groben Hände tun mir weh. Ich brülle, brülle und brülle. Es war fast meins!
Die Schwarzkittel flüchten aus meinem Zimmer, nur die Frau mit den goldenen Locken bleibt zurück. „Dir ist nicht mehr zu helfen!", giftet sie und ihr Naserümpfen verdeutlicht, wie angewidert sie von mir ist. Sie stakst davon. Mit einem lauten, endgültigen Knall fällt die Tür ins Schloss. Das Klackern ihrer Absätze auf dem Flur begleitet mich minutenlang. Ich habe aufgehört zu schreien, bin ganz still geworden. „Das war es nun", denke ich. Hier werde ich sterben. Verwahrt, verlassen und vergessen.
Mit der Zeit verschwindet ein Weißkittel nach dem Anderen, bis nur noch Malcolm und ich da sind. „Bis morgen, Yuri", flüstert er und seufzt. Die Enttäuschung in seinen Augen schmerzt mich mehr als die Worte der Frau. Dann ist auch er verschwunden.
Im letzten Licht des Abends spähe ich durch die Gitterstäbe meines rosa Käfigs. Durch den Tränenschleier nehme ich den Sonnenuntergang nur verschwommen war. Nun verstehe ich, warum ich hier bin.
Weil ich eben nicht das kleine Mädchen auf dem blauen Schaukelpferd bin.
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Der rosa Käfig
Short StoryÜber Yuri, die irgendwo zwischen Schaukelpferd und Zwangsjacke zu verstehen versucht, wer sie ist - oder auch warum Wahnsinn relativ ist. © Amy Daltrey, moonriverblues Das fantastische Cover ist von Amena @thejumpingjellyfish