1. Kapitel

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Mir fällt es so schon schwer, Freunde zu finden. Durch meine Intelligenz habe ich bereits drei Klassen übersprungen, sitze also in der 8. Klasse mit deutlich älteren Menschen fest. Die meisten dieser Idioten fühlen sich durch mich bedroht und herabgestuft. Das macht die Schulzeit schon anstrengend genug. Als aber heute der Anführer der Mobbingattacken gegen mich es übertrieb und ich sauer wurde, mischten sich die Merkwürdigkeiten auch noch mit ein. Ich stierte ihn böse an während er lachend zu seinem Platz ging. Er wollte sich setzen, doch auf einmal war sein Stuhl verschwunden. Kurz darauf schrumpfte Sein Schreibpult auf Lego- Größe. Ich sah völlig geschockt zu. Dann warf ich mir die Tasche über die Schulter und stürmte aus dem Klassenzimmer.

Nun stehe ich draußen und koche vor Wut. Ich hab keine Lust mehr. Auf die verängstigten Blicke, auf die Einsamkeit, auf alles! Ich laufe nach Hause. Den Bus, der gerade ankommt und eigentlich in meine Richtung fährt, ignoriere ich einfach. Ich brauche jetzt Bewegung. Während ich durch die Gegend marschiere und fluchend vor mich hin murmele, habe ich plötzlich das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich bekomme Gänsehaut und ein komisches Kribbeln im Nacken. Kein sehr angenehmes Gefühl. Schnell drehe ich mich um, um zu sehen, wer hinter mir her ist. Anscheinend niemand. Hmm, womöglich leide ich schon unter Paranoia. Ich will weitergehen, doch pralle plötzlich gegen ein Hindernis. Verdutzt sehe ich auf und erblicke im Bruchteil einer Sekunde ein lächelndes Gesicht, halb versteckt unter einem langen Bart. Doch im nächsten Augenblick ist es schon wieder verschwunden. Häh? Fata Morgana mitten in London? Halluzinationen? Dehydration? Egal, was der Grund ist, es ist mysteriös. Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort.

Ohne weitere Vorkommnisse komme ich zu Hause an. Meine Eltern sind nicht da. Natürlich nicht, es ist grad mal 11:50 Uhr. Sie haben beide erst 14 Uhr Feierabend. Glück für mich. Mein Schwänzen bekommen sie erst auf dem Zeugnis mit, das in zwei Wochen fällig wird. Stöhnend lasse ich mich aufs Sofa fallen und schalte den Fernseher an.

Irgendein oberflächlicher Sender sendet eine oberflächliche Serie mit oberflächlichen Schauspielern. Aber letztendlich ist doch die ganze Welt oberflächlich. Alles existierende, alles denkende. Nichts geht tiefgründiger als ein Maulwurffurz.

Ich passe nicht in diese Welt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Ich merke erst, dass ich auf dem Sofa eingenickt bin, als mich meine Mutter weckt. "Hey, Leo, aufwachen. Was machst du denn hier?" "Früher Schluss", murmele ich verschlafen und registriere dabei, dass Mom zittert. Als ich hochschaue, merke ich auch, warum. Scheinbar lasse ich jetzt schon im Schlaf Dinge schweben. Bis auf das Sofa, auf dem ich liege, hängt jegliches Mobiliar an der Decke. Superklasse. "Wie?", fragt meine Mutter nur. "Ich weiß es doch auch nicht!" Tränen laufen meine Wangen hinab. "Mom, ich hab Angst... Was ist das nur?" Während ich dasitze und weine, sinken die Möbel langsam wieder zu Boden und stellen sich an ihren ursprünglichen Platz. Seufzend nimmt mich meine Mutter in den Arm. "Ach Schatz, du bist halt was Besonderes. Ich hoffe nur, dass wir irgendwann herausfinden, was los ist."

                                ***
Mit dem jährlich nervigen Sing-Sang "happy birthday to you" werde ich wach. Mein elfter Geburtstag. Immer noch so lange bis zum Erwachsenenstatus. Ich strecke mich und öffne die Augen. Meine Mutter steht breit grinsend vor mir, beugt sich herunter und küsst mich auf die Stirn. "Werd in Ruhe wach und komm runter, Frühstück ist fertig." Mit diesen Worten verschwindet sie aus meinem Zimmer. Völlig motivationslos erhebe ich mich und gehe erst mal ins Bad.

Etwas wacher gehe ich, nach dem Duschen nur in Jogginghose und Schlabbershirt gekleidet, nach unten. Auf der Anrichte neben dem Esstisch ist alles mit Geschenken vollgestapelt. "Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz." Mom und Dad stehen beide vor dem Tisch und wollen mich umarmen. Meine Antwort wirkt versehentlich etwas emotionslos. "Da-da-daaaankeee", gähne ich herzhaft. Mein Vater muss lachen. "Typisch meine Tochter", sagt er und zieht mich in seine Arme. Das kommt sehr selten vor. Daher ist es jedes Jahr aufs Neue das schönste Geschenk für mich. Während ich mich wohlig in die Umarmung kuschle, sehe ich plötzlich aus dem Augenwinkel, wie sich ein Teller vom Tisch erhebt und anfängt zu tanzen. Schockiert befreie ich mich schnell aus der Umarmung, bevor jemand anderes das rhythmische Geschirr bemerkt. Ebenso schnell begibt sich der Teller wieder auf seinen Platz zurück. Ein Glück.

Fröhlich quatschend setzen wir uns und frühstücken. Ich will gerade anfangen, meine Geschenke auszupacken, als es plötzlich an der Tür klingelt.

Die Nachfahrin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt