Reisetag

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Kurz vor der Abreise schenkte Helmine ihr ein neues Kleid.

„Für deine Zeit auf Burgfels. Ich hoffe, es gefällt dir!" Ihre Augen blitzten vergnügt.

Entzückt befühlte Sylviane den Wollstoff. Dick und weich, so war er genau richtig. Der Frühling ließ noch immer auf sich warten, ein ekelhaft nasskalter Tag folgte auf dem anderen. In diesem Kleid brauchte sie gewiss nicht zu frieren. Und die wunderschöne Farbe erst! Dieses leuchtende Blau! Das war endlich eine Abwechslung zu dem gewöhnlichen tristen Dunkelblau, das die Trägerin um Jahre älter machte.

„In der Färberei hatten sie eine neuartige Mischung zusammengestellt. Der Farbton passt so gut zu deinen Augen, finde ich. Na, was meinst du?", frage Helmine gespannt.

Sylviane nickte strahlend. „Ich ziehe es sofort an!"

Die Muhme lachte erfreut und half ihr dabei. Vorsichtig zupfte Sylviane alles zurecht und blickte an sich hinunter. Das schwarze Mieder umschloss eng ihren schlanken Körper und betonte die Taille; ein breiter, weißer Leinenkragen schmückte den Ausschnitt. Der Rock reichte bis zu den Knöcheln - es war genau die richtige Länge, die einer Bauersfrau zustand. Vor Freude schoss ihr das Blut in die Wangen: „Das hast du aber sehr gut genäht! Es sitzt wie angegossen. Danke ...!"

„Ich habe dein Sonntagskleid als Vorlage genommen", erklärte Helmine stolz.

Zufrieden betrachtete sich Sylviane im Spiegel. So war sie für Burgfels bestens gerüstet!

Helmine umarmte sie innig. „Du bist wirklich ein schönes Mädchen geworden. Ich werde die Tage und Stunden bis zu deiner Heimkehr zählen! - Ach, es ist eine Schande! Irgendwann werde ich herauskriegen, wer es gewesen ist, der Severin verraten hat, und dann ..."

„Dann? Vielleicht erfahre ich es ja auf Burgfels. Und bedenke, eigentlich ist der Frondienst keine Strafe ... selbst von Freien darf der Grundherr verlangen, mehrere Tage im Jahr für ihn umsonst zu arbeiten. Wahrscheinlich hätte er mich so oder so zu sich befohlen. Aber was mir Angst macht, ist der Junker selber! Von den Dorfbewohnern habe ich bis jetzt nur Klagen über ihn gehört. Er soll aufbrausend sein und ein Tyrann ... Jedermann fürchtet ihn. Aber vielleicht will er das auch. Wie schade, dass der alte Heinrich nicht mehr lebt!"

Verdrossen presste Sylviane die Lippen aufeinander. Ach, wirklich jammerschade ...! Vermutlich hätte Heinrich Verständnis für Severins Vergehen gehabt. Einen Bauer, dem die Scheune abgebrannt war, hätte er nicht zusätzlich gestraft - im Gegenteil, er hätte ihm Saatgut aus seiner herrschaftlichen Vorratskammer geschenkt, und davon bestimmt so reichlich, dass mindestens zwei Familien ihr Auskommen gehabt hätten.

Zwar hatte sie ihn nicht persönlich gekannt, aber die Bauern trauerten ihm immer noch nach. Heinrich von Burgfels war der beste Herr gewesen, den man sich wünschen konnte. Hochgesinnt und ritterlich, wie er war, hätte er die Unterdrückung Schutzbefohlener niemals gutgeheißen. Selbst ein harter Schicksalsschlag - sein ältester Sohn Hagenot starb bei einem grässlichen Jagdunfall - hatte ihn nicht gebeugt. Statt verbittert zu werden, war er seinen edlen Prinzipien treu geblieben und hatte sich nun erst recht dem Wohlergehen seiner Freiherrlichkeit gewidmet. Mit der Zeit hatte er sich von einem Kriegsmann in einen Landadeligen gewandelt, dem goldgelbe Ähren wichtiger waren als der metallene Glanz seiner Waffen. Landgraf Philipp musste künftig ohne ihn seine Schlachten schlagen. Offenbar hatte dies Gottes Wohlgefallen gefunden; weiterer Kummer blieb Heinrich erspart, lange durfte er sich bester Gesundheit erfreuen, bis ihn ein gnädiger Tod ereilte. Eines Morgens wurde er wie schlafend im Bett vorgefunden - ein Herzanfall, wie sein Medicus verlauten ließ. Nach einer tränenreichen Beerdigung hatte der jüngste und einzige Sohn Michael die Herrschaft über Burgfels übernommen. Und seit dem Tag war die Wende eingetreten - leider zum Schlechten.

Im Gegensatz zu Hagenot kümmerten Michael die Sorgen anderer nicht. Seine Bauern konnten selber zusehen, wie sie ihre Schulden bezahlten oder das herrschaftliche - und somit unantastbare - Wild verscheuchten, das die Felder kahl fraß. Nie befasste er sich persönlich mit seinen Untergebenen, sondern schickte stattdessen seinen Verwalter Crispin Blanck vor, für den Milde gleichfalls ein Fremdwort war. Bis jetzt hatte sie glücklicherweise nie mit den beiden zu tun gehabt und kannte vom Schloss selbst nur den Burgplatz, wohin sie den Oheim begleitet hatte, um die Abgaben zu entrichten. Es war nicht viel, was sie Michael schuldeten - mit Sicherheit war ihm genau das schon lange ein Dorn im Auge. Möglich, dass er einen Grund suchte, dies zu ändern. Sie durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.

Hilfesuchend wandte sie sich an die Muhme. „Du hast ja einige Jahre auf der Burg gearbeitet und kennst den Junker – sag' mir, wie soll ich mich verhalten? Wie kann ich seinen Jähzorn vermeiden? Ich will da keine Fehler machen ... hatte er nicht mal einen Knecht zum Krüppel geschlagen, nur weil der das Pferd nicht schnell genug gesattelt hatte?"

Helmine schien über ihren Ausbruch erstaunt. „Was sind das für Gedanken, Kind? Natürlich ist es sein gutes Recht, nach seinem Gutdünken zu bestrafen. Doch du brauchst dich nicht zu fürchten! Halte dich immer an die Regeln, sieh' ihm nicht allzu keck in die Augen und rede mit leiser Stimme. Widersprich' ihm nie, selbst wenn er unrecht hat, sonst geht das übel aus. Sei folgsam und bleibe möglichst unauffällig, das ist dein bester Schutz, verstehst du? Und vor allem: rede ihn bloß nie mit ‚Junker' an! Am besten, du vergisst dieses Wort ganz, sonst weckst du seinen Grimm. Und damit hat er sogar recht, denn seit seines Vaters Tod ist er kein Junker mehr, sondern der Freiherr von Burgfels! Denk' dran, sonst ... ach, ich mag es gar nicht aussprechen!"

„Ich werde mich daran halten. Außerdem ... es gibt ein Gerücht, dass Michael nicht unschuldig am Tod seines Bruders sein soll ..."

„Pah, die Leute schwatzen viel. Bewiesen ist bis jetzt nicht das Geringste. Und falls es dennoch zutreffen sollte, können wir nichts gegen ihn ausrichten - das vermögen nur Edelleute, von denen jeder selbst genug Dreck am Stecken hat. Sie werden schweigen, und unsereiner muss froh sein, wenn er sein Auskommen hat. Ob wir Michael leibeigen sind oder jemandem anders, läuft auf dasselbe hinaus! Die Herren sind alle gleich!"

„Ach, und was ist mit Heinrich?"

Die Muhme seufzte tief bekümmert. „Ja, er war die Ausnahme. Er war Glück und ein Segen für uns alle, doch nun ist er tot, und wir müssen uns mit Michael abfinden. Wir sind nur Halbfreie und haben zu gehorchen, wem auch immer. So musst du leider Gottes in den sauren Apfel beißen und fronen geh'n, ob du willst oder nicht."

„Ich geh' ja schon ... und solange ich nicht ins Gras beißen muss, soll's mir recht sein."

„Das schaffst du gewiss! Vertraue deinem Schicksal, du wirst es meistern, egal, was kommt. Du bist die Nachfahrin von Carol!"

„Schön wäre es - aber was genau meinst du damit?"

Helmines Blick bekam etwas Hartes. „Hm, da gibt es etwas ..."

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