23. März 2313, Santa Barbara/California

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Mit der sanften Brise, die vom Ozean auf das Land weht und mir wie eine zärtliche Hand die Haare aus dem Gesicht streicht, geht der gewohnte salzige Geruch einher und legt sich mir auf die Haut und die Lippen. Sie ist wie eine Umarmung, die zusammen mit der hereinbrechenden Nacht die unglaubliche Hitze verjagt, die wieder einmal schwer auf Kalifornien lastet. Ich liege mit dem Rücken im Sand und starre an den Himmel, der sich heute komplett wolkenfrei und überladen mit Sternen über Santa Barbara wölbt. Es ist ein schöner Anblick, der mich fast vergessen lässt, wo ich bin. Ich atme tief die salzige Luft ein, die mir so vertraut ist und mich schon mein Leben lang begleitet. Morgens weckt sie mich und abends begleitet sie mich ins Bett. Es ist schön, dass sich wenigstens das nicht geändert hat.

Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal richtig geschlafen habe. Oder gegessen. Oder geduscht. Ich spüre den klebrigen, getrockneten Schweiß auf meiner Haut und den noch immer leicht warmen, feinen Sand unter mir. Wenn man genau so da liegt und das fühlt, was ich fühle, könnte man fast auf die Idee kommen, dass alles in Ordnung ist. Aber das ist es nicht. Das ist es schon lange nicht mehr. In meinem Kopf formen sich Bilder und ich kann sie nicht aufhalten, so sehr ich es auch versuche. Wie ein Regenguss stürzen sie auf mich ein und holen mich in die grausame Wirklichkeit zurück. Ich bin auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt. Die Autos, die hier parken, sind schon lange nicht mehr gefahren worden, weil es kein Benzin und kein Öl mehr gibt. Sie stehen nur noch zur Zierde da, um an die alten Zeiten zu erinnern und daran, wie es früher einmal gewesen ist. Überall sind Menschen und rufen und schreien und weinen. Manche von ihnen tragen Waffen und bahnen sich mit Gewalt ihren Weg in den Supermarkt. Sie alle haben Taschen und Körbe und Schubkarren dabei und stürmen auf den Eingang zu. Irgendjemand schlägt eine der Scheiben ein und das splitternde, kreischende Geräusch von zerschellendem Glas schmerzt in meinen Ohren. Ich gehe hinter einem der Autos in Deckung und beobachte von hier aus das Geschehen. Ich sehe Deborah Banks, die sich hektisch umblickt und dann losrennt. Hinein in den Laden. Ob ich es ihr gleich tun sollte? Ich entscheide mich dagegen, krieche zwischen parkenden, nutzlosen Autos hindurch bis an den Rand des Parkplatzes und renne los. In diesem Augenblick fällt der erste Schuss und ich beschleunige meine Schritte. Fast automatisch tragen mich meine Füße immer weiter fort von dem Schauplatz der Massenpanik, des Diebstahls, der Gewalt und der Unmenschlichkeit.

Ich reiße die Augen auf, damit ich nicht einschlafe und um die schrecklichen Bilder aus meinen Gedanken zu verjagen. Langsam rappele ich mich hoch und befreie mein Top und meine Haut von dem Sand. Vor meinen Augen erstreckt sich der Ozean in seinem herrlichen, dunklen Blau, das in der Dunkelheit fast schwarz aussieht. Leise, fast flüsternd, rollen die Wellen ans Ufer, um sich wenig später wieder zurückzuziehen. Ich liebe das stetige Rauschen, das so verlässlich gleichmäßig ertönt und meine flatternden Nerven ungemein beruhigt. Ich frage mich, wie spät es wohl ist. Neben mir im Sand liegt der abgewetzte Rucksack, in dessen Innern ich die Schätze des heutigen Tages hüte, gerade so, als würde mein Leben davon abhängen. Aber indirekt tut es das ja auch. Ich strecke meine Hand danach aus und umklammere einen der Träger. Er sollte längst hier sein, denke ich und suche die Dunkelheit um mich herum nach einer Bewegung, einem Anzeichen von Leben, ab. Aber da ist nichts. Ich bin mutterseelenallein. Ich stehe auf, meine Beine fühlen sich erschöpft und wacklig an. Mein Bauch knurrt. Bitte lass ihn kommen!

Ich werfe mir den Rucksack über die rechte Schulter und stakse über den Strand auf das Wasser zu. Als meine Füße in feuchtem Sand einsinken, bleibe ich stehen, hebe die Arme und lasse mich von dem Windhauch küssen, der mich auch vorhin schon geliebkost hat. Und wenn er nun nicht kommt? Ich schüttele den Gedanken beiseite, setze den Rucksack ab und warte, bis die nächste Welle ans Ufer schwappt und an meinen Füßen kitzelt. Als sie sich zurückzieht, folge ich ihr und lasse mich in das kühle Nass fallen. Das Salzwasser brennt in den Schürfwunden, die ich überall am Körper habe, aber es tut unglaublich gut. Ich beginne, mich abzureiben und zu waschen, ich spritze mir das Wasser ins Gesicht, in die Haare, reiße mir mein Top vom Leib und spüle es in den Fluten ab. Es ist mir egal, dass das Salz auf meiner Haut kribbeln wird, sobald es trocknet, und dass es meine Klamotten hart und weniger bequem machen wird. Ich fühle mich endlich wieder sauber und das ist es allemal wert. Ich lasse mich noch etwas auf den Wogen treiben, ohne den Rucksack am Ufer aus den Augen zu lassen. Mein Blick wandert den Strand entlang. Oh bitte lass ihn kommen!

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