Ich spüre den rauen Stamm der Palme an meinem Rücken, als ich mich erschöpft an sie lehne und mich langsam zu Boden sinken lasse. Obwohl es bereits Oktober ist, ist die Hitze fast unerträglich, doch hier im Schatten der Palmwedel lässt es sich wenigstens ansatzweise aushalten. Eine Schweißperle läuft mir über das Gesicht und bahnt sich ihren Weg zu meinem Hals, doch ich ignoriere sie und schließe die Augen. Ich bin viel zu früh hier, doch zuhause habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Als meine Mutter nach der Vase griff und sie knapp neben dem Arm meines Vaters am Türrahmen zerschellte, ergriff ich die Flucht. Ich wollte den Streit nicht miterleben, nicht hören, wie sie sich gegenseitig anschrien. Ich rede mir ein, dass es mich sowieso nichts angeht, was da zwischen meinen Eltern passiert. Ich verschließe immer wieder die Augen vor dem, was doch so offensichtlich ist. Und doch ist es nicht ihre Schuld. Die Krise zerstört Ehen, sie zerstört Menschen, sie zerstört Staaten und einst funktionierende Systeme. Sie zerstört die Infrastruktur, macht arm und irre. Die Menschen drehen allmählich durch und Angst, Ratlosigkeit und Hunger zwingen uns alle in die Knie. Es ist nicht ihre Schuld, denke ich und döse ein.
„Hey Jazz“
Eine klare, vertraute Stimme dringt in mein Bewusstsein und ich fühle mich genötigt, meine Augen zu öffnen. Wie gern ich sie einfach zulassen würde. Ich blinzle, weil ich gegen die Sonne blicken muss. Über mir thront Anna und schaut mit der Andeutung eines Lächelns auf mich herab.
„Erde an Jazz“ sagt sie und winkt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum.
Ich schirme meine Augen mit der Hand ab und kneife sie zusammen. Anna sieht gut aus. Sie ist braun gebrannt, trägt ein rotes Sommerkleid und hat ihre blonden, langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz hochgebunden. Wenn ich sie so ansehe, glaube ich einen Moment lang, dass alles bloß ein böser Traum war. Die Welt kann sich nicht verändert haben, wenn Anna immer noch wie Anna aussieht.
„Hey“ erwidere ich und strecke ihr meine Hand entgegen, damit sich mich auf die Beine zieht. Als wir auf einer Höhe sind und ich ihr gerade in die Augen schauen kann, muss ich mir eingestehen, dass Anna gar nicht wie Anna aussieht. Unter ihren Augen sind dunkle Schatten und ihre Wangenknochen stehen so viel stärker hervor als sonst. Sie ist dünn geworden und ihr Gesicht verrät, dass sie unglaublich müde ist.
„Hast du mich etwa vergessen?“ fragt sie gespielt beleidigt und stemmt beide Hände in die Seiten.
„Wie könnte ich?“ Ich lächle. Es fühlt sich komisch auf meinem Gesicht an, fast so, als müsste ich es erst wieder lernen, nachdem ich es jahrelang nicht mehr getan habe.
„Gut“ Sie streicht sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat, hinter das Ohr und legt den Kopf leicht schief.
„Also gehen wir?“ Sie klingt etwas unsicher, was ich bei ihr sonst selten beobachte.
Ich nicke und werfe einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr. „Wir sollten uns etwas beeilen.“
Seite an Seite laufen wir im zügigen Schritt die menschenleeren Straßen entlang. Die Mittagshitze hat alle Menschen in den schattigen Schutz ihrer Häuser und Wohnungen getrieben. Da weder Busse noch Autos weiterhin betrieben werden können, müssen wir laufen, werden aber auch nicht von roten Ampeln aufgehalten. Bis zum Holiday Inn ist es gar nicht so weit, doch als wir an der Carpinteria Ave ankommen, schwitzen wir, als wären wir einen Marathon gelaufen. Neben mir wischt sich Anna über die glänzende Stirn und wischt ihre feuchten Hände an ihrem Kleid ab.
„Warum eigentlich im Holiday Inn?“ fragt sie.
„Vielleicht will man uns vorgaukeln, dass alles okay ist, bloß weil der Untergang in einer angenehmen Hotelatmosphäre angekündigt wird?“ mutmaße ich wenig ernst, doch weil über Annas Gesicht ein Ausdruck von Traurigkeit huscht, füge ich schnell hinzu: „Das Holiday Inn bietet einfach genug Platz, denke ich.“
Anna schaut noch immer unglücklich drein, doch ich weiß nicht, was ich noch sagen soll und nicke darum auffordernd in Richtung Eingang.
„Wollen wir uns den Schwachsinn jetzt anhören oder nicht?“
Anna sieht mich immer noch mit großen, ernsten Augen an, nickt dann aber und folgt mir durch die Eingangstür. Im Empfangsbereich werden wir von einer angenehmen und unerwarteten Kühle empfangen.
Eine junge Frau im blauen Kostüm mustert uns mit kalten, blauen Augen und hebt fragend eine Augenbraue. An der Brusttasche ihres Blazers trägt sie ein kleines Schild, das sie als Elizabeth Lewitt ausweist. Sie steht kerzengerade hinter dem Rezeptionstresen und scheint ihre Rolle hier furchtbar ernst zu nehmen. Ich frage mich bloß, was genau ihre Aufgabe hier ist.
„Kann ich helfen?“ Ihre Stimme ist schneidend und genauso kühl wie das Blau ihrer Augen. Sie klingt nicht hilfsbereit und freundlich, sondern genervt und abweisend.
„Wir wollen zu der Versammlung“ erkläre ich ihr knapp.
„Die findet im Frühstücksraum statt.“ sagt sie und senkt ihren Blick auf irgendwelche Papiere, die vor ihr auf dem Tresen liegen.
„Wo…?“ setzt Anna an, doch Elizabeth lässt sie nicht einmal ausreden.
„Den Flur entlang und ganz hinten rechts“ antwortet sie barsch, ohne noch einmal aufzusehen.
„Danke“ entgegne ich und mache mich auf den Weg, Anna im Schlepptau.
„Dumme Hexe“ murmelt Anna und ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Grinsen, noch etwas, was ich schon länger nicht getan habe.
Als wir uns dem Raum nähern, in dem die Versammlung stattfindet, werde ich nervös. Ich habe Angst vor dem, was man uns dort mitteilen wird. Vor der Holztür bleibe ich kurz mit klopfendem Herzen stehen und lausche. Anna betrachtet mich fragend. Von innen kann ich eine kräftige, männliche Stimme vernehmen, doch die Worte dringen nicht deutlich zu uns hindurch. Die Versammlung hat bereits angefangen und ich hasse es, in Veranstaltungen hinein zu platzen. Ich hasse es, wie sich die Leute dann nach einem umdrehen und starren. Trotzdem drücke ich sachte die Klinke und schiebe so leise wie möglich die Tür auf, gerade weit genug, dass Anna und ich hindurch schlüpfen können. Der Frühstücksaum ist geräumig und hell, obwohl viele der Vorhänge vor den großen Fenstern zugezogen sind, um die Hitze draußen zu halten. Auf hintereinander stehenden Stuhlreihen sitzen viele Menschen, die ich vom Sehen kenne und auch viele, deren Gesichter mir gänzlich unbekannt sind. Sie blicken kurz zur Tür, als wir eintreten, widmen ihre Aufmerksamkeit dann aber schnell wieder dem grauhaarigen Mann im Anzug, der vorne steht und weiter spricht, als wäre er nicht unterbrochen worden. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Tosende Menschenmassen vielleicht, die lautstark Fragen stellen und jammernd und klagend protestieren. Ich habe Lärm erwartet, Unordnung, Gereiztheit. Doch was mir hier entgegenschlägt, ist sehr viel schlimmer. Ich bin umgeben von einer starren Stille, die von Angst, Hilflosigkeit und Resignation zeugt. Die Menschen sitzen unbeweglich auf ihren Stühlen und starren nach vorn, wo der Mann, von dem ich nicht weiß, wer er ist, obwohl ich das vermutlich sollte, seine einstudierte Rede hält.
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Nonentity
Teen FictionEs ist das Ende der Welt wie wir sie kennen. Die Welt steht am Abgrund. Ressourcenknappheit und immer stärker aufkeimende Rebellionen zwingen sie in die Knie. Armut und Anarchie beherrschen die Menschheit. Jazz und Anna sind unter den Ersten, die es...