Kapitel 7

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Blue

Gegen Juliens Willen war ich allein in das Auto gestiegen und zu Kyle gefahren. Ich wollte für jeweils zwanzig Minuten Fahrt allein sein und nachdenken können. Ich wollte meiner Angst entgegenwirken und ich fühlte mich in Juliens Gegenwart schlechter.
Ich suchte nach Möglichkeiten, wie ich für wenige Tage von Zuhause wegkam. Leider kannte ich niemanden in Roseville. Außer Kyle. Ich hatte keinen Termin bei ihm, aber ich musste mit ihm sprechen. Es war dringend und ich konnte nicht einen weiteren Tag warten.
Außerdem konnte ich auf dem Rückweg Donna vom Flughafen abholen und hatte somit noch mehr Zeit zum Nachdenken.
Ich parkte das Auto und ging zu seiner Praxis.
Als ich die Tür aufdrückte kam mir direkt wieder der gewohnte Geruch von Lavendel und Kaffee entgegen.
Die Tür zu seinem Büro war geschlossen, also setzte ich mich hin und wartete.
Bereits nach wenigen Minuten öffnete er die Tür.
„Blue?“, Er sah mich überrascht an.
„Ich muss dringend mit dir reden.“, sagte ich und er sah auf seine Uhr: „In zwanzig Minuten, in Ordnung?“
Ich nickte und er verschwand wieder in seinem Büro. Wahrscheinlich war gerade ein anderer Patient da.
Nach genau zwanzig Minuten verließ ein dunkelhaariger Mann die Praxis und Kyle kam zu mir raus.
„Was ist los?“, fragte er und bat mich in sein Büro.
Ich setzte mich wieder auf den Sessel und zog ein Kissen auf meinen Schoss – wie immer.
„Ich konnte nicht mehr bis nächste Woche warten, “ erklärte ich, „Es ist zu schlimm geworden.“
„Wieso?“, fragte Kyle und setzte sich auf seinen Sessel, jedoch ohne sein Notizbuch.
„Jack ist hier aufgetaucht.“, sagte ich und beobachtete, wie Kyles Miene sich etwas verfinsterte.
„Der Jack, der eigentlich weg war?“, hakte er nach und ich nickte.
Dann fuhr ich fort: „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kenne niemanden hier in Roseville, aber ich muss weg. Ich kann nicht nach Hause gehen, ich halte das nicht länger aus.“
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Kyle schien das zu bemerken, denn er reichte mir eine Box Taschentücher. Er wirkte zufrieden, denn ich hatte bis jetzt noch nie geweint, wenn ich mit ihm gesprochen hatte.
„Jack wird bleiben, “ erzählte ich weiter, „Und ich muss mich entscheiden, aber ich weiß es einfach nicht. Ich kann es nicht, wenn ich die ganze Zeit bei ihnen bin. Ich halte es nicht aus, das macht mich verrückt.“
Kyle lächelte mich an. Ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, wieso er lächelte. Ich wollte eine Lösung finden; ich wollte endlich wieder gesund werden.
„Wieso lächelst du?“, fragte ich und wischte mir die Tränen weg, die immer weiter meine Wangen herunter liefen.
„Du weinst, “ stellte Kyle fest, „Du sagst mir endlich, wie du dich wirklich fühlst. Du redest. Deswegen lächle ich.“
„Das ist aber doch nicht gut, “ sagte ich laut, „Ich will doch nur, dass das aufhört!“
„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie schlimm ist es.“, fragte Kyle und lehnte sich nach hinten, um einen Bogen von seinem Schreibtisch zu holen.
„Elf.“, antwortete ich und Kyle blickte skeptisch auf den Bogen: „Es geht nur bis zehn, also nehmen wir zehn, okay?“
Ich nickte: „Was ist das?“
„Das?“, Kyle hielt den Bogen hoch, „Oh, ich habe nur darauf gewartet, dass du mir sagst, dass du willst, dass alles besser wird.“
Ich runzelte die Stirn, schniefte und wischte mir erneut die Tränen von den Wangen. Wovon redete Kyle?
„Hör zu, Blue, “ begann Kyle dann, „Seitdem du zum ersten Mal hier warst, habe ich das Gefühl, dass du mehr Hilfe und Unterstützung brauchst, als ich dir bieten kann. Ich kann dafür sorgen, dass du plus minus fünf Tage in einer psychiatrischen Einrichtung unterkommst-“
Ich starrte Kyle an und fiel ihm ins Wort: „Was? Nein. Kyle, nein.“
„Hör mir zu, “ fuhr er fort, „Du wirst zuerst nur für zweiundsiebzig Stunde dort bleiben. Das sind drei Tage. Was danach passiert, kann ich dir noch nicht sagen, aber ich weiß, dass es dir helfen wird. Vielleicht wirst du eine Woche dort bleiben, vielleicht aber auch nur vier Tage.“
„Ich will das nicht.“, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war. Vielleicht half es doch. Vielleicht würde es mir endlich besser gehen können, wenn ich drei Tage dort blieb.
„Ich möchte, dass du jetzt dahin fährst, “ sagte Kyle und gab mir den Bogen, „Ich werde dort anrufen und Bescheid geben, dass du kommst.“
„Kyle…“, Ich sah ihm dabei zu, wie er zum Telefon ging und eine Nummer eintippte.
Bevor Kyle den Hörer an sein Ohr hielt, sah er mich an: „Bitte, Blue. Es ist das Beste.“

Donna

Nach fast einer Stunde, die sie am Flughafen verbracht hatte, tauchte Julien auf. Er wirkte gestresst.
„Donna.“, keuchte er außer Atem. Er musste das ganze Stück vom Parkplatz bis hierher gerannt sein.
„Wo ist Blue?“, fragte Donna und sah sich um. Eigentlich wollte Blue sie am Flughafen abholen kommen. Mit oder ohne Julien stand nicht fest.
„Sie ist nicht da.“, erwiderte Julien und nahm Donna ihren Koffer ab.
„Wo ist sie denn?“, hakte Donna nach und folgte Julien nach draußen. Was ging hier vor sich?
„Sie ist in einem Krankenhaus, “ erklärte Julien, „Es geht ihr gut, Donna.“
„Was?“, fiepste sie und hielt Julien am Arm fest, damit er stehen blieb, „Wieso ist sie in einem Krankenhaus?“
„Sie ist in der psychiatrischen Abteilung für drei Tage unter Beobachtung, “ erklärte er knapp und ging dann weiter, „Ihr Therapeut hat gesagt, dass es besser so ist.“
Donna lief ihm aufgebracht hinterher: „Ist er sich da auch sicher? Oh Gott, meine arme, kleine Blue!“
„Glaub mir, bitte, Donna, “ sagte Julien und öffnete den Kofferraum, „Es geht ihr gut. Sie ist nicht durchgedreht oder so etwas in der Art. Sie ist freiwillig dort.“
„Oh, gut, oh, okay, okay.“, Donna stieg hastig auf den Beifahrersitz, während Julien den Koffer im Kofferraum verstaute.
Dann stieg er neben ihr ein und fuhr los: „Es wird ihr helfen.“
Donna sah ihn überrascht an. So verbissen und grimmig hatte sie ihn noch nie erlebt.
„Stimmt es denn, dass Jack hier ist?“, fragte sie vorsichtig, nachdem sie das Flughafengelände verlassen hatten.
„Ja.“, antwortete Julien und fixierte die Straße, „Leider.“

Julien

Kyle hatte ihn angerufen, direkt nachdem Blue angekommen war. Er sollte ihr Sachen von ihr vorbeibringen.
Julien wusste sofort, was los war. Er war erleichtert, weil Blue endlich die Hilfe annahm, die sie auch brauchte. Gleichzeitig wusste er immer noch nicht, was er tun sollte. Es würde Blue nach drei Tagen nicht besser gehen, denn sie würde sich immer noch nicht entscheiden können.
Mittlerweile wusste er, dass er Mitschuld an Blues Entscheidungsunfähigkeit trug. Er musste einen Weg finden, um Blue zu helfen. Sie bekam jetzt zwar professionelle Hilfe, aber nicht einmal der beste Psychologe der Welt würde ihr helfen können, wenn sie sich nicht entscheiden konnte.
Es war gut, dass sie rund um die Uhr betreut wurde und es war auch gut, dass sie nicht bei Julien und Jack war.
Donna saß neben Julien und starrte die ganze Fahrt aus dem Fenster, während Julien sich den Kopf über eine Lösung zerbrach. Das einzige, was ihm immer und immer wieder in den Sinn kam, waren die Götter. Wenn er die Götter bitten würde, die Beeinflussung von Blues Gefühlen zu unterlassen, dann würde sie sich augenblicklich für Jack entscheiden können.
Einerseits war das die Lösung des Problems, andererseits war Julien egoistisch genug, um diese Lösung nicht zu mögen. Er würde Blue verlieren und er müsste gehen. Er würde nachgeben; aufgeben.
Aber konnte er in dieser Situation überhaupt noch egoistisch sein? Durfte er das überhaupt? Wenn er Blue liebte, dann musste er ihr helfen.
Es war seine Aufgabe, Blue zu beschützen und wenn er von seinem Amt zurücktrat, um einen besseren Schutz für Blue zu gewährleisten, dann war dies eine ehrenwerte Handlung seinerseits. Ob es nur wirklich tun würde, war die eigentliche Frage. 

Blues Caribbean 4 - Wem gehört dein Herz?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt