5. Kapitel - Fallen from Grace

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5. Kapitel – Fallen from Grace

„Die Freundschaft zweier Frauen ist nicht viel mehr als ein Nichtangriffspakt." 
Henry de Montherlant

Der Gedanke an Harry ließ mich die restlichen Wochen des Sommers nicht los. Magie zog sich immerwährend wie eine Lebenslinie durch meine Existenz. Ich war durchtränkt von Magie, die meinen Alltag und mich selbst bis in die letzte Pore ausfüllte. Harrys Leben hingegen kannte keine Zauberei und ich fühlte gleichzeitig Entsetzen aber auch Neugierde, die sich wie ein stetiger Strom in mir ausbreitete und sich in meinem Kopf festsetzte.

Sein Leben erschien mir wie aus einer anderen Gegenwart fernab von allen Dingen, die ich je gesehen hatte und die ein Teil von mir waren. Die Verwandten, die ihn aufgenommen hatten, waren wie Fabelwesen in meinem Kopf – eine überspitzte Karikatur menschlicher Eigenschaften.

Ich stellte mir eine fürsorgliche Tante vor, die Harry bei seinen Hausaufgaben half und einen unternehmungslustigen Onkel, der Harry und unserem Cousin Fahrradfahren auf der Straße vor dem Haus beibrachte. Harry ging es gut, hatte Albus mir gesagt und so erschuf mein Kopf eine Wirklichkeit, die meine Kindheit in gewisser Weise spiegelte.

Doch ich scheiterte immer wieder kläglich daran, ein Bild entstehen zu lassen, denn ich wusste nichts über Harry. All die kleinen Dinge, die eine Person ausmachten, waren mir fremd. Ich wusste nicht, welche Hand seinen Zauberstab dominant führen würde. Ich wusste nicht, ob er lieber Siruptorte oder Rosinenpudding aß. Ich wusste nicht, welche Eigenschaften in Harry so präsent waren, dass sein Hogwarts Haus sofort hervorstechen würde.

Er war wie eine fremde Person, die man in den Körper meines Bruders gesteckt hatte in der Hoffnung, dass er dem berühmten Harry Potter gerecht werden würde, dessen Namen jeder kannte und den doch niemand kannte. Und so hatte ich als seine Zwillingsschwester, die ihn wohl am besten von allen Menschen kennen sollte, nur ein Abbild vor mir, dessen Umrisse vor meinen Augen blass und verschwommen aber auch gefüllt von der Hoffnung waren, endlich mit all den Puzzleteilen gefühlt zu werden, die Harry ausmachten.

„Miss Adelaide hat Lincoln angewiesen, die junge Miss zu ihrem Treffen mit den Muggeln zu begleiten. Miss Adelaide wird erst heute Nachmittag aus dem Labor zurückkehren."

Die hohe Stimme von Lincoln riss mich aus meinen Gedanken und mein Blick huschte zu der kleinen Gestalt, die im Türrahmen stand. Seine großen Fledermausohren waren aufgerichtet und wippten gleichmäßig im Takt mit den Schlägen der Uhr über dem Schreibtisch, während seine Augen über mein Zimmer huschten und an dem umgekippten Stapel an Hogwartsbüchern in einer Ecke hängen blieben. Er stieß die Luft aus seiner übergroßen Nase und ein kurzes Schnippen seiner Finger erklang, woraufhin die Bücher in einer Reihe auf den Schreibtisch zuflogen und sich Rücken an Rücken nebeneinander aufstapelten.

„Miss Catherine sollte die Bücher nicht auf dem Boden liegen lassen. Nein, das sollte sie nicht. Sie wird sie brauchen, wenn sie auf Hogwarts lernt, eine mächtige Hexe so wie Miss Euphemia zu sein. Sie war eine große Hexe."

Lincoln war das letzte Überbleibsel, was mich an meine Ahnen band. Seine Vorfahren waren im Haus meiner Großmutter traditionell im Besitz der jüngsten Nachkommin gewesen, doch Fleamont und Euphemia Potter hatten nur einen Sohn und so erbte ich bei meiner Geburt den Hauself als einzige Tochter von James Potter. Meine Kindheitserinnerungen waren durchpflügt von Bildern, in denen sich Adelaide und Lincoln wie ein Strang stetig durchzogen. Sie waren die ständigen Begleiter meines Lebens gewesen, doch der kleine Hauself war ein letzter Faden zu allem, was ich verloren hatte.

„In welchem Haus war meine Großmutter?", fragte ich und stieß mich von der Kante der Fensterbank ab, um die Treppen anzusteuern.

„Miss Euphemia war Schülerin im stolzen Haus der ehrwürdigen Rowena Ravenclaw, Miss Catherine." Er reckte sich zu seiner vollen Größe und strich sich stolz über sein strahlendweißes mit schwarzen Streifen versehenes Geschirrtuch, was er um den Körper geschlungen trug.

Tu, was du musst. Komme, was mag.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt