Eins - Gefangen

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"Fangen wir doch mit etwas leichtem an. Liebes, zähle doch erstmal alles auf was du über dich weißt. Arbeite dich immer weiter voran. Probieren wir es."

Keine Reaktion. Mein Blick ist immernoch starr geradeaus gerichtet, und jede Zelle in meinem Körper spannt sich an. Die Luft ist zum schneiden dick und mir fällt das Atmen immer schwerer.

"Lilith? Versuch es einmal!" Sprach mir die Therapeutin Mut zu, doch das sollte sie vor 7 Jahren gemacht haben. Sie sollte mir Mut zusprechen als ich es am meisten gebraucht habe aber sie tut es jetzt. Jetzt, wo es schon zu spät ist. Ich will nicht reden. Ich will diese nervtötende Stimme nicht hören. Meine nervtötende Stimme. Die Stimme die sich nach schlechtem Gesang anhört, nach platten Reifen. Ich will mich nicht hören. Ich kann mich nicht hören. Ich muss mich nicht hören. Mich kann keiner zwingen. Keiner verfügt über die Kontrolle meiner Stimme. Keiner verfügt über mich. Über mein Gehirn, meine Handlungen. Ich bin ein freier Mensch. Frei, in einem Käfig. einem großen Käfig. Ich bin ein Vogel. Ich wollte schon immer fliegen.

"Lilith.." Seufzt die fast 40 jährige Frau im blauen Kittel vor mir und streckt ihre Hände aus. Schnell halte ich mir die Hände vor die Ohren und beiße den Mund zusammen. Ich beiße mir auf meine Lippe, in mein Zahnfleisch. Der metallische Geschmack von meinem Blut macht sich in meinem Mund bemerkbar, doch ich schlucke nur. Ich will nicht schreien, nicht husten, nicht keuchen. Ich will mich nicht hören. Ich muss mich nicht hören. Das Blut fließt mir langsam aus meinem Mundwinkel und tropft auf mein weißes Nachthemd. Wie doll habe ich mir auf die Lippe gebissen? Die Therapeutin nimmt ihre Hände zurück und legt sie wieder auf den Tisch. Ich lasse meine da wo sie sind. Das Blut tropft, und rauscht in meinen Ohren. Vorsichtig öffne ich meine bis jetzt geschlossen gewesenen Augen und blicke um mich herum. Der Raum ist gleich geblieben. Die Topfpflanze steht immernoch in der Ecke an Ort und Stelle, ich sitze immernoch an diesem langen grauen Tisch mit der Ärztin. Das Licht ist immernoch grell und blendet mich. Wenn man Licht hören könnte, würde dieses Licht wie meine Stimme klingen. Grell. Nervtötend. Die Frau sieht mich an. Ihre graugrünen Augen durchbohren mich. Durchbohren meinen Verstand. Sie versucht mich zu verstehen, aber sie wird es nicht schaffen. Keiner soll mich verstehen. Ich bin ein freier Mensch. Frei, in einem Käfig. Ich bin gefangen, aber das müssen sie ja nicht wissen. Keiner muss das wissen. Das ist mein kleines Geheimnis.

"Lilithanne, wir sehen uns morgen um die selbe Uhrzeit wieder." sagt die Therapeutin, steht auf, streicht ihren Kittel gerade und verlässt mit ihren Akten den Raum. Kurz danach erscheinen Sanitäter, und ich werde wieder in meine Einzelzelle geschmissen. Als meine nackten Füße die hellgrauen Fliesen berühren und mein Körper unsanft mit dem Boden bekanntschaft macht, fällt mir etwas ein.

Wieso habe ich mir im Behandlungszimmer nicht einfach den Kopf aufgeschlagen?

Die Wände haben OhrenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt