Hannah Hirsch kam aus der Dusche, schnappte sich ein Handtuch und wickelte es sich um. Dann tapste sie zum Spiegel, der beschlagen war, wischte einen Streifen frei und betrachtete ihr Spiegelbild. Die langen blonden Haare klebten ihr am Kopf wie Seetang an einem Fels und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht mit dem breiten Mund und den hohen Wangenknochen. Sie beugte sich vor und schaute sich in die Augen. Die Iris waren rauchig blau. Keine besonderen Auffälligkeiten. Oder doch? Sie beugte sich weiter vor. Da waren tief in der blauen Iris Goldtupfer - genau die hatte sie gesucht. Wenn man nur lange genug hinschaute, könne man Goldstaub in ihren Augen sehen, hatte Florian gesagt. Hannah grinste. Goldstaub in ihren Augen.Manchmal, wenn sie mit Florian zusammen war, glaubte sie fast wirklich, das sie Goldstaub in den Augen hatte. Sie runzelte die Stirn. Ganz schön unheimlich - die Gefühle, die Florian Rosen in ihr auslöste. Ob sie real waren? Ja doch, sie fühlten sich echt an. In den letzten Wochen hatte sie dauernd an Florian gedacht, fast so, als hätte ihn jemand in ihr Hirn einprogrammiert. Ständig und überall sah sie sein Gesicht vor sich, sei es in der kreisenden Oberfläche eines frisch gebrühten Kaffees, im Licht und Schatten, in Wolken oder hinter ihren geschlossenen Augenliedern.
Sie musste an ein paar Verszeilen aus dem Theaterstück denken, das sie gerade für die Aufführung am Schuljahresende probten. Shakespears >> Romeo und Julia<<.
Im Geiste hörte sie Florians Stimme: "Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Obst und Julia ist meine Sonne!"
Sie hatte gesagt: "Das stimmt aber nicht ganz, Florian. Romeo sagt:>...und Julia die Sonne!<, - nicht meine Sonne." Lächelnd hatte er genatwortet: "Nein, du bist Julia und du bist ganz eindeutig meine Sonne."
Dann hatte er ihr in die Augen geblickt und sie hatte das Gefühl gehabt, alles um sie herum drehte sich.
Sie lachte sich im Spiegel zu und schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Noch immer grinsend schlang sie sich das Handtuch um den Kopf und rubbelte sich das Haar trocken. Sie wollte nicht zu spät zu ihrem Treffen mit Florian kommen - nicht ausgerechnet heute! Als sie mit dem Handtuch versehentlich über die beiden schmerzenden Stellen am Rücken schrappte, zuckte sie zusammen. Sie drehte sich so zum Spiegel, dass sie ihre Schulterblätter sehen konnte. Irgendwas hatte sie dort gestochen. Gleich zweimal: Auf jedem Schulterblatt prangte ein leicht entzündeter roter Punkt. Und zwar schon seit ein paar Tagen. Sehr lästig, um noch dazu an so einer blöden Stelle, wo man kaum hinkam, um sich zu kratzen. Sie würde sich etwas anziehen müssen, was ihren Rücken bedeckte. Schließlich wollte sie auf keinen Fall, dass Florian dachte, sie hätte Flöhe.
Wieder schaute sie in den Spiegel. Liebte sie Florian wirklich - oder brachte sie das nur mit ihrer Rolle in dem Theaterstück durcheinander? Nein, sie war sich sicher, dass da mehr war. Sie hatte gleich so ein seltsames Flattern im Bauch gespürt, als die Wahl auf sie gefallen war, neben ihm als Julia zu spielen - und während der Probenwochen war das Kribbeln immer stärker geworden, je besser sie ihn kennenlernte.
Sie dachte an das Casting zurück. Dass Florian überhaupt dort aufgetaucht war, hatte alle überrascht. Er war erst seit sechs Monaten an der Schule und hatte eher zurückhaltend gewirkt. Jedenfalls nicht wie der Typ, der sich um die Hauptrolle in der Schultheaterproduktion bewarb. Innerhalb der Klasse war er freundlich, aber er hatte keinen engen Freunde und seine Mitschüler hielten ihn eher für einen Einzelgänger. Niemand hatte ihn bis jetzt zu sich nach Hause eingeladen und an Wochenenden war er nicht mit ihnen herumgehangen oder auf irgendwelchen Partys erschienen. Hannah konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie Florian zum ersten Mal gesehen hatte. Es war am Tag ihres Schulausflugs zum Hampton Court Palace in Richmond im Westen Londons gewesen. Was für ein seltsamer Tag! Sie wusste, dass man es Deja-vu nannte, wenn man lebhafte Erinnerungen an einen Ort hatte, an dem man eigentlich noch nie gewesen war. Doch genau dieses Gefühl hatte sie sofort beschlichen, als der Bus auf den Parkplatz gefahren war und sie das Schloss aus dem 16. Jahrhundert erblickt hatte - das Gefühl, dass sie schonmal hier gewesen war. Die stämmigen Tudor-Türmchen und das Gebäude aus rotem Backstein mit seinen Sandfarbenen Steinzinnen und Verziehrungen sowie der kopfsteingepflasterte Innenhof und die große Gartenanlage - all das hatte auf sie merkwürdig vertraut gewirkt. Als sie jedoch später ihre Eltern davon erzählte, weil sie dachte, sie wären früher mal dort gewesen, als sie klein war, hatte die gesagt, dass sie mit ihr noch nie dort waren.
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Elfennacht - Die siebte Tochter
FantasíaDen Blick auf ihr Spiegelbild geheftet, bewegte Hannah stumm die Lippen: Ich liebe dich, Florian. Ihr Augen wurden groß. Am liebsten hätte sie laut geschrien, und sie wusste nicht, ob vor Freude oder aus Panik. Hannah hatte sich bereits rettungslos...