Tag 1

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Nach einer wenig erholsamen Nacht hatte sich Lancer mit Corvin zum Haupthaus begeben, um mit den anderen zu frühstücken. Dunkle Ringe zeichneten sich unter den Augen des Rotschopfs ab und sein Haar glich einem Vogelnest, während er immer wieder stöhnend gegen seinen Bauch drückte. Die ganze Nacht hatte er sich vor Übelkeit hin und her gewälzt, was Lancer unzählige Male aus dem Schlaf gerissen hatte. Daher sah er nicht viel besser aus als Corvin und unterdrückte nur mit Mühe und Not ein Gähnen. Die anderen erwarteten sie bereits in dem großen Essensraum, der sich im Erdgeschoss befand. Alle saßen an einem kreisrunden Tisch zusammen und aßen bereits ausgiebig. Narvik hatte sie als Erster bemerkt und zu sich gewunken. Er hatte ihnen zwei Plätze freigehalten, auf die sie sich dankend niederließen, auch wenn ihnen beiden momentan nicht unbedingt nach etwas zu essen zu mute war. Corvin, weil er noch immer von Übelkeit geplagt wurde, und Lancer selbst, weil er nur an Schlaf denken konnte und sich am liebsten wieder in sein Bett hätte fallen lassen. 

„War ja klar, dass bei ihm Nebenwirkungen zu Tage treten", murmelte Viper an der gegenüberliegenden Seite des Tisches und warf Corvin dabei vernichtende Blicke zu. Dieser wurde daraufhin noch grüner im Gesicht und Lancer rückte vorsorglich ein wenig von ihm weg.

„Lass ihn in Ruhe, Viper", wies Rose sie zurecht, was tatsächlich Wirkung zu haben schien, allerdings fiel Lancer jetzt, wo er Rose ansah auf, dass auch sie das Essen nicht anrührte.

„Du etwa auch?", fragte er irritiert ein, was sie dazu brachte zu erröten und den Kopf zu schütteln.

„Es sind keine Nebenwirkungen, eher die ersten erwünschten Ergebnisse. Mein Geruchssinn hat sich über Nacht radikal verändert. Es ist echt aufregend, ich rieche nun viel mehr, aber einiges, was früher gut roch, stößt mich gerade einfach nur ab. Das Brot kann ich gerade nicht anrühren, das Fleisch hingegen riecht akzeptabel."

„Und warum isst du es dann nicht?", hakte er nach.

„Ich bin eigentlich Vegetarierin", erwiderte sie kleinlaut.

„Dann wirst du dich wohl anpassen müssen", murrte Viper genervt dazwischen, „Ich habe jedenfalls noch von keinem Wolf gehört, der sich von Gras und Blümchen ernährt."

Rose seufzte daraufhin schwer und griff zögerlich nach einer Wurstscheibe, die sie sich anschließend langsam in den Mund schob. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, handelte es sich dabei um das Beste, was sie jemals gegessen hatte. Lancer hatte nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet Rose sein würde, bei der sich die ersten Effekte so deutlich zeigen würden. Er hatte eher an Viper oder sich selbst gedacht. Vipers neidische Seitenblicke zu Rose ließen ihn glauben, dass sie genau wie er auch lieber an Roses Stelle gewesen wäre. Im Nachhinein kamen ihm diese Erwartungen töricht vor, er hatte gedacht, dass die eigene Stärke bestimmen würde, inwieweit sich das Wolfsgen zeigen würde. Aber Rose war der beste Beweis dafür, dass er sich geirrt hatte, denn sie war zwar nicht so schmal wie Corvin, besaß aber ebenfalls kaum Muskeln, im Gegensatz zu Viper, die von oben bis unten durchtrainiert hat. Gerne hätte er gewusst, was die beiden vor dem Projekt gemacht hatten und was sie zu ihrer Teilnahme bewogen hatte, aber er kannte die Regeln, die es ihnen streng untersagten, etwas von ihrer Vergangenheit preiszugeben und er würde nicht derjenige sein, der sie brach. 

„Heute Morgen sind übrigens noch die restlichen Teilnehmer angereist", murmelte Rose, während sie bereits nach der zweiten Wurstscheibe griff und diese gierig verspeiste.

„Und? Wie sind sie so?", natürlich musste Corvin der Erste sein, der neugierig nachfragte, davon konnte ihn selbst seine Übelkeit nicht abhalten.

„Wieso machst du dir nicht dein eigenes Bild", blaffte Viper und nickte mit ihrem Kopf zur Tür des Essenraums, die sich soeben geöffnet hatte. Da Corvin und er mit dem Rücken zur Tür saßen, mussten sie sich wohl oder übel umdrehen, was der Rotschopf sofort tat und vor Begeisterung aufjapste. Offenbar waren die Neuen genau nach seinem Geschmack. Lancer hingegen blieb einfach ungerührt sitzen. Er würde sich gewiss nicht wie ein kleines Kind an Weihnachten aufspielen, die Neuen war auch nur Projektteilnehmer. Nichts Besonderes und er würde sie schon noch zu Gesicht bekommen, sobald sie sich an den Tisch setzen würden. Durch sein Verharren entgingen ihm jedoch nicht die Reaktionen der anderen, die er mit wachsender Verwunderung wahrnahm. Ausnahmslos alle spannten sich an und richteten sich in ihren Stühlen auf, als wollten sie bloß keinen schlechten Eindruck machen. Rose schluckte eilig ihre letzten Bisse hinunter und holte ihr strahlendes Lächeln hervor, offenbar hatte sie an einem Neuen schon Gefallen gefunden, Viper verschränkte ihre Arme, um ihre Muskeln zu präsentieren, Narviks Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen und selbst Cadoc rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

„Das sind Elitesoldaten", flüsterte Corvin begeistert.

„Und sie sehen soo gut aus", zwitscherte Rose wie ein hormongesteuerter Teenager.

Lancer ließ das Ganze relativ kalt. Es war nichts Neues für ihn Elitesoldaten zu begegnen, trotzdem hatte er ein flaues Gefühl im Magen, weil die Angst blieb, dass er sie vielleicht kannte. Die Anzahl jener, die es soweit brachten, war gering und die Wahrscheinlichkeit somit höher, dass man sich schon einmal gesehen hatte. Er bemühte sich jedoch nach außen hin cool zu bleiben und griff gerade nach einer Flasche Wasser, als die Neuen in sein Blickfeld traten und die freien Stühle auf seiner linken Seite ansteuerten. Erleichterung durchströmte ihn, als er zwei Frauen erblickte, die er in seinem Leben definitiv noch nie getroffen hatte. Beide waren relativ groß, athletisch und schlank und trugen ihre Haare wie bei den meisten Einsätzen vorgeschrieben kurz. Eine von ihnen mit einem schwarzen Bob stellte sich als Honey vor, ihr fester Händedruck ließ keinen Zweifel daran, dass man sich von ihrem Decknamen besser nicht täuschen ließ. Ihre Mitbewohnerin hieß Sam und besaß wilde braune Locken, die ihr ungezähmt ins Gesicht fielen und ihr etwas Verwegenes verliehen. 

Die letzten beiden Projektteilnehmer waren zwei Männer, die gerade in einem Gespräch vertieft waren. Der kleinere von ihnen hatte seinen Kopf so zu dem anderen gedreht, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte, aber es reichte aus einen Blick auf seine seidig schwarzen Haare zu werfen und das kleine Unendlichkeitszeichnen direkt hinter seinem Ohr zu entdecken, um Lancers Griff zu lockern, so dass ihm die Wasserflasche mit einem lauten Poltern entglitt. Der Schwarzhaarige wurde durch das Geräusch aufgeschreckt, wandte sich um und starrte direkt in Lancers Augen. Lancer fühlte sich in der Zeit zurückversetzt und konnte nicht anders, als den Blickkontakt zu halten und das Starren zu erwidern. Mitten in diese blauen Augen, die er in und auswendig kannte, aus denen er immer hatte lesen können. Er kannte das Glitzern, das sie erfüllte, wenn sie sich über jemanden lustig machten, das Funkeln, wenn ihnen etwas gefiel und ihre Aufmerksamkeit erregte, den Moment, wenn sie sich unter fast geschlossenen Augenliedern kurz weiteten, im Augenblick höchster Lust. Nichts davon hatte er in den letzten Jahren vergessen. Auch wenn er es versucht hatte. Aber die Erinnerungen waren zu intensiv. Er würde niemals verdrängen können, wie er die wundervollen Lippen des Schwarzhaarigen über unzählige Nächte in Beschlag genommen und sie solange geküsst hatte, bis sie herrlich geschwollen waren und sich zu einem Lächeln verzogen. Niemals würde er den Anblick des herrlichen Sixpacks aus seinem Gedächtnis löschen können, welches sich unter dem hautengen dunklen T-Shirt verbarg. Er kannte jede Erhebung dieser herrlich weichen Haut, hatte sie stundenlang bewundert, sie mit seiner Zunge erkundet und an manch einem Abend unzählige Bodyshots von diesem Körper zu sich genommen. In seinen Erinnerungen fühlte es sich an, als wäre es gestern gewesen, aber der bittere Schmerz, der ihm durch die Brust fuhr, machte ihm nur allzu deutlich, dass diese blauen Augen ihm schon vor langer Zeit das Herz gebrochen hatten.

„Lancer, was für eine Überraschung", kam es Ace über seine Lippen, die sich in ihrem altbekannten Grinsen kräuselten.

Lancer hätte ihm dieses Grinsen am liebsten aus dem Gesicht gekratzt und ihn angeschrien. Vergessen war seine Zurückhaltung und Besonnenheit. Ace war immer in der Lage gewesen, seine Beherrschung zu brechen und gerade jetzt, genügte seine Anwesenheit um Lancers Blut zum Kochen zu bringen. Er wollte seinen alten Partner anschreien, sich auf ihn werfen, ihn verletzen, ihn küssen und mit ihm in einer Hütte verschwinden. Und er hätte sich selbst dafür verfluchen können, dass er nach allem was passiert war, noch immer nicht von Ace losgekommen war und sich wieder seine Nähe wünschte. 

Aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Das Einzige, was er herausbrachte, war ein Knurren, dass bald von einem Jaulen abgelöst wurde, als er bemerkte, dass er in der Tat nicht mehr sprechen konnte. Jeder Versuch brannte in seinem Hals und fühlte sich unnatürlich an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er zu würgen begann, um die Wörter heraus zu zwingen. Seine Kehle wurde immer enger, die Luft drohte ihm aus zu gehen, bis sich plötzlich zwei Hände um seine Schultern schlangen und ihn vorsichtig schüttelten. Rose. Sie griff nach seinem Gesicht, zwang ihn dazu, seinen Blick von Ace zu lösen, was es besser machte, aber er bekam noch immer keine Luft.

„Wehr dich nicht", flüsterte sie eindringlich, „Du kannst nichts dagegen tun. Es ist das Gen!"

Doch obwohl sie Recht hatte, überwog der Schmerz und die Wut, die aus ihm herausbrechen wollten und ihn völlig überrumpelten. Solange bis mehrere Ärzte in den Raum stürmten und er in sich zusammensackte, sich völlig bewusst, dass Ace Augen noch immer auf ihm lagen.

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Ace's großer Auftritt<3

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