Kapitel 1

4 0 0
                                    


1806.
Ihre langen, blonden Haare haben sich aus ihrer strengen Frisur gelöst. Ihr bleiches Gesicht ist bedeckt mit kalter, nasser Erde. Ihr bodenlanges blaues Kleid ist zerrissen. So liegt sie da. In einem Wald. In England. Sie scheint schon einige Tage dort zu liegen, denn ihr Kleid ist komplett durchnässt. Sie hieß Anna und war auf dem Weg zu ihrer Schwester. Mir.

Die Schreie der Reporter reißen mich aus meinen Gedanken. Sie fragen, wer sie sei, was sie im Wald wollte, woher sie kam und mehr. Ich kann mir das nicht anhören. Sie stürzen sich auf die Leiche meiner Schwester wie Geier in der Wüste auf eine Ratte. Gedanklich entschuldige ich mich bei meiner Schwester für den Vergleich mit einer Ratte. Früher, als wir noch jung waren, haben wir uns oft gestritten. Doch in letzter Zeit haben wir uns kaum gesehen. Sie wollte mich besuchen kommen. Ich wohne schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause. Hätte ich sie doch besucht. Wäre ich doch zu ihr gegangen. Aber ich hatte keine Zeit und so war sie zu mir gekommen. Sie war zumindest auf dem Weg. So in Gedanken versunken bemerke ich nicht, wie mich jemand anspricht. „Miss?" fragt ein junger Gendarm. Offenbar hat er gerade erst seinen Dienst in der Gendarmerie angetreten. Mit zitternden Händen hält er Block und Stift. „Miss? Ähm...Ja genau... Könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?" Ich nicke leicht und der Braunhaarige junge Mann fährt fort „Sind Sie die...Schwester der Toten?" Wieder ein leichtes nicken meinerseits. Unbewusst greife ich an meine Kette. Mit meinen zarten Fingern spüre ich die Ornamente, die sich auf der kühlen Oberfläche des Ovalen Anhängers befinden. Im inneren ist ein Bildnis von Anna und mir eingraviert. Wir hatten nur uns. Unsere Eltern sind bereits vor vielen Jahren verstorben und meine Schwester lebt bei unserer Tante, der Schwester unserer Mutter. Wie sehr ich Anna doch vermisse. Ein leises „Ja." verlässt meine Lippen. Zu mehr bin ich momentan nicht fähig. „Hat Ihre Schwester einen Mann oder Verlobten?" Ich wollte meinen Kopf schütteln, doch ich halte in meiner Bewegung inne. Wir haben uns lange nicht gesehen, geschweige denn gesprochen. Ich weiß nichts von ihrem Leben. Ohne auf eine genauere Antwort zu warten, befragt mich der Gendarm weiter. „Können Sie sich vorstellen, warum Ihre Schwester den Freitod gewählt hat?" In diesem Moment reiße ich meinen Kopf hoch und sehe den verdutzten Polizisten geschockt an. „Freitod? Nein! Anna wäre dazu niemals fähig gewesen!" Natürlich...wir haben uns lange nicht gesehen. Aber Selbstmord? Nein! Meine geliebte Schwester hätte sich niemals das Leben genommen. Durch meine überraschend laute und plötzliche Antwort ist der Gendarm so verwirrt, dass er einen kurzen Moment benötigt, um sich zu fangen. „Alles klar...falls wir noch weitere Fragen haben sollten, werden wir Sie kontaktieren. Am besten Gehen Sie nach Hause. Ihr Mann kann sie sicher etwas beruhigen. Ein Kollege wird sie nach Hause begleiten. Mein aufrichtiges Beileid." Er rasselt diesen Text so monoton herunter, als hätte er ihn auswendig gelernt. So emotionslos werde ich abgespeist. Von dieser Unverfrorenheit überrascht steige ich in den Wagen der Gendarmerie, in dem bereits ein dicker Mann in Uniform sitzt, ein. Über meine Anwesenheit scheint er jedoch nicht begeistert, denn er verspeist gerade einen Donut. Unbeeindruckt und gleichgültig nenne ich ihm meine Adresse und lehne mich in den Fond des Wagens zurück. Der Wald zieht an mir vorbei und verschwimmt. An meinem Anwesen angekommen steige ich mit einem nicken in Richtung des Gendarmes aus. Paul, mein Mann, empfängt mich. Völlig neben mir bemerke ich nicht, wie wir ins Teezimmer gehen. Hier wollte ich mich mit Anna treffen. Sie war doch erst 19 Jahre alt. Wie konnte sie nur sterben? Selbstmord sagte der braunhaarige Hilfs-Gendarm. Wie konnte er nur so etwas behaupten? Ich blicke aus dem Fenster hinaus in den nebeligen Wald. In den Wald, in welchem meine geliebte Anna ihr Leben lassen musste. Und zum ersten Mal am heutigen Tag beginne ich bitterlich zu weinen. Ich breche zusammen und robbe schluchzend und mit glasigem Blick in Richtung des Fensters. Und der Himmel tut es mir gleich.


>Überarbeitet

1806Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt