Kapitel 4

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Es ist Samstag. Der Tag von Annas Beisetzung. Zusammen mit Paul stehe ich vor ihrem Sarg. Es sind nicht viele Leute gekommen. Nur wir beide, Tante Maria und noch einige von Annas Freunden. Viele dunkle Wolken bedecken den Himmel. Tante Maria weint ununterbrochen. Genau wie ich. Paul steht mit einem, wie eingefrorenen, Gesichtsausdruck neben mir. Der Pfarrer spricht sein Gebet. Ein leises „Amen" geht durch die Runde. „Asche zu Asche, Staub zu Staub." höre ich nur im Hintergrund den Pfarrer sprechen. Ich trete als erste an ihr Grab um Erde auf den Sarg zu geben. Hoffentlich findet sie ihren Frieden. Ich bin wie benommen und Paul führt mich zu unserem Automobil. Er schließt die Tür und wir fahren los. „Sieh es als Neuanfang, Darling. Mit ihrer Beisetzung kannst auch du mit ihrem Tod abschließen. Wir müssen jetzt nach vorne blicken." sagt Paul leise, fast flüsternd zu mir. Eine träne quillt aus meinem Auge und ich wende meinen Blick von meinen Händen ab. Der Wald zieht an mir vorbei und die herabfallenden Blätter die tanzend zu Boden sinken, lassen den Wald wie einen Wunderschönen Ballsaal wirken. Mit den Blättern als Menschen in den Verschiedensten Kleidern in Rot, Orange und Gelb. Leise vernehme ich auch mein Lieblingslied von Mozart. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Paul meine Hand nimmt. Mein Blick trifft die braunen Augen meines Mannes. „Wir sind da." sagt er zu mir und erst in diesem Moment realisiere ich, dass der Wagen zum Stehen gekommen ist. Mit einem leichten nicken steige ich nach Paul aus, hake mich bei ihm unter und gemeinsam gehen wir zu unserem Anwesen. Ein wundervoller Duft dingt aus der Küche in meine Nase. Wahrscheinlich steht Alice in der Küche und bereitet das Abendbrot vor. Aber ich habe keinen Hunger. Schon seit Tagen nicht. Immer wieder sehe ich Pauls besorgte Blicke, die gelegentlich in zornige wechseln. Warum es auch zornige Blicke sind...darüber haben wir noch nicht gesprochen. Ich habe Angst vor seiner Reaktion. Dass er mich liebt, dass weiß ich. Und dass es für einen Mann nicht einfach ist, seine Liebe zu zeigen...dessen bin ich mir auch bewusst. Nur wünsche ich mir, dass wir auch offen über unsere Probleme reden können. Mit einem Mal steht Alice vor mir. „Miss Charlotte?" spricht sie mich unsicher an. Ich habe nicht bemerkt, dass ich mitten im Flur stehen geblieben bin. Alice sieht mich auffordernd an. „Natürlich." flüstere ich, übergebe ihr meinen Mantel und bewege mich in Richtung des Esszimmers, wo Paul bereits an dem langen, dunklen, robusten Eichentisch sitzt. Für Alice tut es mir leid, dass ich ihr köstlich duftendes Essen verschmähe. Doch Hunger habe ich nicht. Mir wird ein Tee vor die Nase gestellt. Himbeere. Leicht nippe ich an meinem Heißgetränk, während Paul seine Roulade verspeist. Es ist schon später Abend. Ich begebe mich auf den Weg zu den Schlafgemächern um mich Bettfertig zu machen. Nach etwa einer halben stunde höre ich schwere Schritte auf der Treppe. Das knarzen der massiven Tür lässt mich herumfahren. Ich blicke in die braunen Augen meines Mannes. Langsam geht er in das nebenan gelegene Badezimmer. Ich bewege mich auf das große Himmelbett zu und lasse mich auf die weiche Matratze fallen. Der heutige Tag war sehr anstrengend. Annas Beerdigung aber lässt mir keine Ruhe. Ebenso wie die Umstände ihres Todes. Sie hat nicht den Freitod gewählt. Und das gilt es nun zu Beweisen. Leise seufze ich und schließe meine Augen. In meinem Kopf herrscht ein einziges durcheinander. Ich muss gähnen und bemerke erst jetzt, dass die Sonne bereits untergegangen ist. Leise summe ich irgendeine Melodie. Ich kenne sie, weiß aber nicht woher. Irgendwie beruhigt sie mich. Meine Lieder schließen sich und sofort sinke ich in die Traumwelt ein und bemerke nur am Rande, wie Paul sich neben mich legt.

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